Aus die Maus

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Für einen kurzen Augenblick bin ich so geschockt, dass ich nicht antworten kann. Doch dann verfliegt der Schleier, der sich auf mein Gehirn gelegt hat, so schnell wie er gekommen ist und mein Herz nimmt wieder seinen normalen Rhythmus auf.

"Ich würde wirklich gerne, aber...", beginne ich, während ich fast schon verzweifelt versuche, Luft in meinen Brustkorb zu pumpen. Dämlicherweise verweigert meine Lunge gerade die Mitarbeit.

"Schon gut", Neil lächelt mich verlegen an. "Wenn du nicht..."

"Nein. Ich bin gerade zu erschöpft zum Tanzen, aber ich habe gehört, dass der Garten zu dieser Jahreszeit sehr schön sein soll." Es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich mich erklären muss. Hätte er mich nicht einfach ausreden lassen können? Dafür sehe ich, wie sein Gesicht sich postwendend aufhellt. Als würde ein Stern am Nachthimmel plötzlich aufleuchten.

Galant bietet er mir seinen Arm an und ich zwinge mich wieder auf die Füße.
Der Garten ist wirklich ein Meisterwerk. Ich wünsche mir, auch etwas so perfekt zu können wie der Gärtner, der ihn gestaltet hat. Rosensträucher reihen sich aneinander soweit das Auge reicht und der süßliche Geruch hat sich wie dicker dichter Nebel am Morgen fest auf dem Gras niedergelassen. Es ist angenehm, neben Neil durch die unzähligen Blüten zu wandern und seine Wärme so nah an meinem Körper zu spüren.

Aber die Stille breitet sich zwischen uns aus wie ein Raubtier, das seiner Beute auflauert. Die Spannung steigt ins Unermessliche, bis ich sie krampfhaft durchbreche. Ich kann nicht anders.
"Wie war das Fechten gestern?", frage ich etwas abgehackt.
"Ganz gut", Neil lächelt, als wüsste er genau, wie ich mich gerade fühle. "Mein Lehrer ist etwas streng, aber dafür mache ich gute Fortschritte."
"Da ist deine Familie sicher stolz auf dich", etwas bedrückt denke ich an meine eigene steife Familie. Wir erreichen einen kleinen Pavillon im Garten und ich bleibe im Licht der wenigen Öllampen stehen.
"Ein bisschen vielleicht", gibt er verlegen zu mit einem Hauch Röte auf den Wangen. Es steht ihm erstaunlich gut.
Wieder schleicht sich die Stille zwischen uns.

"Heute ist eine wirklich schöne Nacht", bemerke ich und betrachte den wolkenverhangenen Himmel. Ab und zu blitzt ein Stern durch die Wolkendecke.
"Vielleicht ", Neil hat den Kopf nicht einmal angehoben. Stattdessen sieht er mir direkt ins Gesicht.  Ich weis nicht einmal, wann er mir so nahe gekommen ist. "Aber er ist nicht halb so schön wie du." Ich bemerke wie mir das Blut in die Wangen schießt. Innerlich hüpft mein Herz aufgeregt auf und ab und Adrenalin pumpt durch meine Adern. Unbewusst wandert mein Blick zu seinen Lippen.

Ich habe noch noch einen Jungen geküsst. Noch nie in meinem erbärmlich kurzen Leben. Wie es wohl ist? Wie es sich anfühlt?
Neils Brust hebt und senkt sich unter seinen ruckartigen Atemzügen.
Ich beschließe, mutig zu sein.

Und ich lehne mich nach vorne, bis ich unsere Lippen sanft treffen.

Kurz darauf stoße ich ihn von mir und stürze so schnell ich kann aus dem Garten.
Neil ruft mir etwas hinterher, dich ich verstehe ihn nicht. Ich fliehe durch die roten Rosen und bemerke noch, wie sich Dornen in mein Kleid bohren und der Saum reißt.

Dann. Ein stechender Schmerz in der Brust.

Ich falle in Ohnmacht.


„Es war schrecklich", meine Stimme klingt erstickt. Ob das an der Decke liegt, unter die ich mich verkrochen habe oder an den Tränen, die mir verstohlen über das Gesicht laufen, weis ich nicht. „Was ist nur falsch mit mir? Er sieht gut aus, ist super süß, beliebt..."
„Aber du bist nicht in ihn verliebt."

„Wenn du das sagst, klingt das wie ein Vorwurf, Harry", ich stecke den Kopf aus meiner selbstgebauten Deckenburg.
„Das ist es auch, aber nicht an dich", mein Cousin mit den Sommersprossen und den roten Locken sitzt auf meinem Bett und redet mir jetzt schon den ganzen Morgen gut zu. Vorsichtig streicht er mir die Tränen vom Gesicht. „Aber ein Vorwurf in die Richtung, dass du erwartest, dich in jeden verlieben zu müssen, der gut aussieht und keine schreckliche Persönlichkeit hat. Irgendwann triffst du noch den Richtigen."

„Nicht hilfreich", knurre ich. Meine Emotionen wechseln im Sekundentakt. Traurigkeit. Angst. Frust. Brennender Sebsthass. Zweifel.
„Immerhin kannst du jetzt sagen, dass du einen netten ersten Kuss hattest." Ich stöhne frustriert.
„Aber ich wollte keinen netten ersten Kuss!", rufe ich aus. „Ich wollte einen Kuss, der mich in den Himmel schickt, der mich nach den Sternen greifen lässt, mich von den Füßen reißt und mich meinen Namen vergessen lässt!" Harry lacht leise und nimmt mich in den Arm. „Ich verrate dir mal ein Geheimnis", flüstert er mir ins Ohr. „Einen so perfekten Kuss gibt es nur in Geschichten, Flo."

„Harry!", ich mache mich von ihm los und blicke ihn vorwurfsvoll an. „Du verstehst das nicht. Ich habe mich noch nie zu einem Jungen so hingezogen gefühlt wie zu Neil. Vielleicht läuft da draußen niemand rum, der so perfekt ist. Vielleicht finde ich nie einen Freund!"
Harry wirft mir ein Kissen an den Kopf.
„Sei vorsichtig, wir lernen gerade Zweikampf in Sport." Aber Harry lacht nur. Spielerisch schlage ich ihn mit dem Kissen. Federn segeln durch die Luft. Mit drei Daunen in den Locken beginnt Harry, mich zu kitzeln, bis ich mich winde und vor Lachen kaum noch Luft bekomme.
„Sie liegt am Boden. Das sieht heute aber gar nicht gut aus für Flora Daubeney."
„Aufhören...Harry", ich schüttle mich vor Lachen und versuche, ihm zu entkommen. Ein weiterer Lachkrampf rüttelt meinen Körper.

Plötzlich scheint etwas in meiner Lunge zuzuschnappen.
Ich bekomme keine Luft mehr. Ich probiere, etwas zu sagen, aber es kommen keine klar artikulierten Worte aus meinem Mund. Harrys besorgtes Gesicht erscheint über mir. Wie ein Mond schwebt es über mir. Weiß wie Kalk. Seine Sommersprossen pulsieren und seine Umrisse flackern unscharf, als hätte ein Kleinkind sie mehrmals mit einem Stift nachgezeichnet. Sein geöffneter Mund gibt das Dröhnen eines Motors von sich.

Dann wird alles um mich herum schwarz.


Eine Woche danach und einige Ohnmachtsanfälle später bringen meine Eltern mich zu einem Arzt.

Die Diagnose ist eindeutig. Unumstößlich. Unveränderlich.

Die stille Seuche.

Fight or DieWhere stories live. Discover now