Die Höhle des Linwurms

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„Einen Moment, ich bin gleich wieder da, Herr Kremper." Ich bin um die Ecke verschwunden, bevor er mich aufhalten kann.
In der breiten Hauptstraße schlägt mir der Qualm der Industriestätten entgegen, die sich hinter der Einkaufsstraße meterhoch in die Höhe schrauben. Und dort, nur fünfzig Meter vor mir in der Menge aus Arbeitern, die nach ihrer Mittagspause wieder zur Arbeit eilen, sehe ich den blonden Kopf der Frau wieder. Ihre Korkenzieherlocken tippen mit jedem ihrer eleganten Schritte auf ihre Schultern. Auch die Farbe des Kleides stimmt. Bingo.
Ich kann mein Glück kaum fassen. Mit ausgefahrenen Ellenbogen dränge ich mich durch die Menge. Kurz bevor ich sie erreiche, nimmt mir für einige Sekunden ein großer Mann die Sicht. Dann ist sie verschwunden.

Ratlos bleibe ich mitten auf dem Weg stehen. Wo zur Hölle ist sie hin? Jemand läuft mir in den Rücken und ich stolpere nach vorne.
„Pass doch auf, wo du stehenbleibst, Mädchen", schnauzt mich jemand an. Ich stehe inmitten zahlreicher Menschen, aber ich habe meine Orientierung verloren.

Plötzlich flitzt etwas schnell zwischen meinen Beinen her. Es ist ein brauner, leicht vernachlässigt aussehender Straßenhund, wie sie in der Stadt zu Hunderten vorkommen. Kurz dreht er den Kopf und hechelt mich an, seine Zunge hängt leicht dümmlich aus seinem Maul heraus, aber seine Augen strahlen in dem hellsten Himmelsblau. Dann schnappt er sich etwas, das drei Meter weiter auf dem Boden liegt und läuft davon. Im letzten Moment realisiere ich, was es ist. Die Muschel!
„Warte!", rufe ich ihm hinterher, bevor ich mich, so schnell wie es mir mit meiner krampfenden Lunge möglich ist, weiter durch die Menge kämpfe. Flink verlässt der Hund die Hauptstraße und biegt in das unübersichtliche Gewirr von Nebenstraßen ein, die den alten Stadtkern kennzeichnen. Je weiter wir uns von den Fabriken entfernen, desto weniger Menschen begegnen wir und desto besser kann ich wieder atmen.
Kurz stütze ich mich an einer Hauswand ab um zu Atem zu kommen. „Warte", hauche ich dem Hund hinterher, dann überfällt mich für ein paar Minuten die krampfhafte Schnappatmung, dass ich mich fühle wie ein Fisch auf dem Land. Aber der Hund bleibt nur kurz stehen, sieht sich nach mir um und läuft dann erbarmungslos schnell, aber mit fröhlich wedelndem Schwanz weiter in die Eingeweide der Stadt.
„Verarsch mich", fluche ich, bevor ich erneut die Verfolgung aufnehme. Doch der Hund ist schon um die nächste Häuserecke verschwunden.

Als ich auf die Straße dahinter stolpere, ist er nicht mehr zu sehen. Stattdessen sehe ich einen alten Mann, der die Muschel in seiner Hand erstaunt begutachtet, als hätte er sie gerade dem Hund abgenommen.
„Hallo, Sie!", setzte ich an, doch er hört mich nicht und tippelt einfach davon. Ich grummel ein paar Schimpfwörter in meinen imaginären Bart, bevor ich ihm hinterherlaufe. Verflucht noch mal! Und noch eine Straße weiter, immer näher an den Modr Berg, ein Stadtviertel der ärmeren Bevölkerung, heran. Auch wenn man die einstige Pracht der hiesigen Häuser noch erahnen kann, blättert bei vielen schon die bunte Farbe, der Kalk rieselt herab, Fensterscheiben sind gesplittert, Balken liegen krumm und schief und Ziegeln auf dem Dach fehlen. Aus dem ein oder anderen Fenster verfolgen mich misstrauische Blicke, ein alter Mann sitzt auf einer Bank vor seinem Haus und raucht eine Zigarre. Die viel zu weite Kleidung flattert im kalten Wind um seinen abgemagerten Körper und tiefe Ringe zieren seine Augen. Um diese Tageszeit findet man am Modr Berg nur die Alten und ganz junge Kinder, die noch nicht alt genug sind, um zur Schule zu gehen. Ich falle mit meiner schicken Bluse und der maßgeschneiderten Hose auf wie ein Pferd unter Kühen. Tiefer und tiefer folge ich dem Alten hinein in das Gewirr der Gassen. Er überquert eine Gasse und verschwindet im nächsten Moment hinter einer Kutsche. Dann taucht er nicht mehr auf.

Dreimal umrunde ich die wartende Kutsche, bis der Blick des Kutschers mich davon abhält es ein weiteres Mal zu versuchen. Der Mann bleibt verschwunden. Ich blicke mich um, aber niemand ist auf dieser heruntergekommenen Straße zu sehen. Auf der linken Straßenseite drängelt sich ein Schaufenster mit allerhand Krempel zwischen die Wohnhäuser. Eine hölzerne Schlange starrt mich durch die Scheibe an. Rechts befindet sich die alte Markthalle von Modr Berg. Von drinnen hört man Menschen feilschen und lachen. Das wird sich der Grund sein, warum sich in dieser Straße noch ein Schneider, ein Apotheker, ein Schreiner und ein Töpfer halten können.
Plötzlich knallt es direkt neben mir ohrenbetäubend.

Ein Schuss! Mein Herz macht einen Satz nach vorne und ich zucke am ganzen Körper zusammen. Aber es ist nur die Schlange aus dem Schaufenster, die ihren Kopf gegen die Scheibe geschlagen hat.
Moment.
Die hölzerne Schaufenster-Schlange?
Während ich mich noch in ihre Richtung drehe, schnappt sie wieder vor. Ich zucke entsetzt zurück, als das Glas der Scheibe knirscht. Zwei hölzerne, vernarbte Zähne bohren jetzt sich aus dem Glas heraus an die kühle Luft.
Was zur Hölle?
Dann greift eine schlanke, dunkle Hand mit langen, eleganten Fingern nach der Schlange und löst sie vorsichtig aus der Scheibe. Die hölzerne Figur windet sich um den nackten Arm und sanft löst die Person mit der anderen Hand die Schlange und setzt sie wieder in das Schaufenster, wo sie wieder erstarrt. Inzwischen nur noch zutiefst verwirrt, wandert mein Blick zu der Person hinter der Scheibe.

Ok. Gewonnen. Vermutung bestätigt. Ich wurde wie ein dummer junger Hund, dem man ein saftiges Stück Fleisch vorgesetzt hat, hierhin gelockt.
Hinter ihrem Rücken zieht die blondgelockte Frau eine Muschel hervor und platziert sie mit einem gewieften Lächeln in dem überquellenden Schaufenster. Ich will mich schon umdrehen und einfach gehen, halte aber noch mal inne und betrachte den Laden genauer. Über der Tür ist ein großes Schild angebracht, das mit hunderten flackernder Glühbirnen verkündet: DIE HÖHLE DES LINWURMS. Und auch wenn mir der Nachhall des Schreckes noch in den Knochen sitzt, umgibt den Laden keine unheimliche, beängstigende Aura. Stattdessen riecht er nach Geheimnissen und Abenteuern und lässt mein Herz schneller schlagen.
Tief durchatmen. Ruhig werden. Je länger ich mich selbst frage, was mich dort erwarten würde, desto ruhiger wurde ich. Als ob der Laden selbst eine Aura hätte, die meinen Kopf mit Nebel füllt. Mit Nebel und den Träumen nach Freiheit und unendlichen Möglichkeiten.
Entschlossen legte ich meine Hand auf den schlangenförmigen Türgriff, der trotz des kühlen Wetters warm in meiner Hand liegt und sanft in meine Hand summt. Kurz stutze ich, doch dann schwingt die Tür auf und ich betrete den Laden.

Das sich mein Leben von diesem Tag an auf den Kopf stellen wird, ist mir nicht klar.

Fight or DieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt