Auf Unwegen

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Mit drei dicken Büchern stolziere ich nach einer weiteren Stunde zur Ausleihe. Oliver sollte ungefähr in einer halben Stunde wieder hier ankommen.
Die Studentin hinter dem Tresen nimmt die Bücher lächelnd an, ihr Füller wirbelt erwartungsvoll in ihrer Hand.
„Die würde ich gerne ausleihen", meine ich und lächel scheu. Sie nickt.
„Immatrikulationsbescheinigung?", fragt sie.
Immatriku... was? Lass dir nichts anmerken. Ich krame langsam in meiner Tasche. Habe ich nicht die Studenten vor mir einen Zettel auf den Tisch legen sehen? Wahrscheinlich meint sie das, oder? Mein Gesicht wird warm, als mir das Blut in den Kopf schießt. Ich krame immer ungeduldiger und schneller in meiner Tasche. Dann seufzte ich.
„Tut mir leid, die hab ich wohl zu Hause vergessen", ich versuche mich in einem entschuldigenden Lächeln. Sie legt bestimmt die Hand auf meine Bücher und nimmt sie an sich.
„Ich komme dann morgen wieder", und damit gehe ich.
„Bis morgen", antwortet sie nur.

Fünf Minuten später sitze ich grübelnd auf dem Sofa neben anderen Studenten. Es schien recht normal zu sein, dass jemand seine Immatridings vergisst. Anscheinend bin ich noch nicht aufgefallen. Und jetzt? Ich kann die Bücher schlecht stehlen. Dafür sind sie nicht nur zu schwer, es würde auch auffallen, sobald sie jemand ausleihen wollte. Verdammter Mist!
Ich knabbere nervös an meinen Fingernägeln, als ich sehe, wie der Student neben mir aufsteht und sich Richtung Bad entfernt. Seine Tasche, deine Jacke, selbst seine Notizen und die Bücher lässt er offen auf seinem Platz liegen.

Unauffällig rutsche ich einige Zentimeter weiter in die Richtung und schiebe mit meinem Fuß meine Tasche direkt neben seine. Dann beuge ich mich herunter und beginne, in meiner Tasche zu kramen. Als niemand mich eines zweiten Blickes würdigt, wechsle ich die Tasche und suche gehetzt nach dem Zettel.
Tatsächlich, er befindet sich hinter den Büchern, säuberlich gefaltet. Vorsichtig packe ich ihn in meine Tasche.

Dann, als er gerade aus dem Bad kommt, stoße ich Tollpatsch beim Aufstehen mein Getränk um und mache einen Satz zurück, um nicht von dem Wasser getroffen zu werden. Unglücklicherweise stoße ich dabei seine Tasche mit ganzer Kraft um, sodass sich der Inhalt über den Boden, unter und auf dem Sofa verteilt. Er flucht. Ich auch.
Purpurrot sammel ich so viele seiner Unterlagen und Bücher auf wie ich kann und reiche sie ihm. "Tut mir leid", murmle ich. Er seufzt nur. "Das passt schon", meint er als ich mich nochmal bücke.
"Tschuldigung", murmel ich nochmal kleinlaut, dann bin ich verschwunden.

Den gesamten nächsten Tag verbringe ich in meinem Zimmer und fälsche die Immatrikulationsbescheinigung, mit der Vorlage von der, die ich ihm geklaut habe. Danach fertige ich mit einem Messer aus alten Weinkorken einen Universitätsstempel. Die Tinte verschmiere ich beim Stempeln ein wenig.
Jetzt sieht es tatsächlich so aus als hätte jemand nur schlampig gearbeitet.

Einen Tag später lege ich die Bücher abermals auf den Ausleihtisch.
"Heute mit Immatrikulationsbescheinigung?", die schwarzhaarige Studentin grinst mich an.
"Heute einmal nicht vergessen", antworte ich lächelnd und packe die gefälschte Bescheinigung auf den Tisch.

Jetzt gilts.
Ich darf nicht auffliegen.
Hoffentlich fällt ihr nichts auf.
Ich unterdrücke ein nervöses Fingernägelknabbern.

Die Studentin kritzelt schnell etwas in ihr Buch. Dann grinst sie mich wieder an und schiebt mir die Bücher zu. "Also dann, Violet Blackbone. Viel Spaß mit den Büchern."
"Danke", ich lächle sie an. Um ehrlich zu sein bin ich gerade so erleichtert, dass das Lächeln echt ist.

Zwei Tage später stecke ich bis zum Hals in alten Erzählungen und Geschichten. Gerade habe ich die Nase in einem Buch vergraben, das Aufzeichnungen darüber enthält, wie man Rituale durchführt. Mit meinem Füller kritzel ich parallel Notizen auf ein Blatt. Nicht, dass ich das Ritual durchführen könnte. Das würde voraussetzen, dass ich überhaupt die Energie wahrnehmen könnte und davon bin ich noch Meter, Meilen, ganze Weltumrundungen entfernt.
Aber immerhin zwei Zentimeter näher als vorgestern.

Mein Blick schweift zur Uhr an der Wand gegenüber. In einer Stunde werde ich von Oliver einen Block entfernt wieder aufgesammelt. Ich frage mich, ob er mir misstraut. Bestimmt. Meine Ausrede, ich würde eine Freundin besuchen verliert mit jedem Tag, den ich hier bin, mehr an Kraft. Und ich meine JEDEN Tag.
Spätnachmittags bin ich zurück zu Hause und verkrieche mich in mein Zimmer, schließe die Tür ab und versuche, mich für das Energiefeld zu öffnen. Auch wenn ich immer noch nicht weiß, was ich gut kann, so weiß ich mir inzwischen sicher, worin ich eine Niete bin. Denn ich versage. Wieder. Und wieder. Und wieder.

Mein Stift schwebt reglos über meinen Notizzettel. An sich scheint das Ritual eins der Einfacheren zu sein. Und auch wenn es sicherlich nicht so einfach ist, an die Muscheln zu kommen, so klingt es zumindest machbar. Immerhin braucht man keinen Pfau, der in einer Vollmondnacht geschlüpft ist, kein Blut eines Gnomes oder Haare einer Vogelscheuche.
Ja, ich weiß inzwischen, dass magische Elemente mehr Energie beinhalten aber sie sind auch schwerer zu finden.
Also schreibe ich stattdessen auf, was ich für dieses Ritual brauche und zeichne die Symbole ab.
Energiefeld hin oder her, heute werde ich das Ritual durchführen. Ich habe schließlich nicht ewig Zeit. Wortwörtlich.

Am Nachmittag also streiche ich durch einen Schmuckladen und muss enttäuscht feststellen, dass die Ausbeute an Muscheln lächerlich gering ist. Und das ist in diesem Fall noch ein Euphemismus.
An sich macht es Sinn, wir sind von der See viel zu weit entfernt als dass Treibgut in Schmuck normal wäre, aber jetzt gerade macht es mich nur wahnsinnig.
Langsam umstreiche ich die Regale. Den Stock habe ich in der Minerva gelassen. Menschen sind freundlicher, wenn sie denken, dass ich nur eine normale, kerngesunde Frau bin.
"Und Sie haben keine Stücke mit Muscheln?", hake ich nochmal nach. Die Verkäuferin sieht mich kurz mitleidig an. Kein Wunder, ich stelle diese Frage schließlich schon zum dritten Mal.
"Das habe ich leider nicht da", meint sie und kramt in der Auslage hinter der Verkaufstheke rum. "Aber ich kann dir dafür wunderschöne Ketten mit Kristallen bieten."
Sie ahnt etwas, das merke ich sofort. Kristalle sind zwar Steine und enthalten somit keinerlei Energie, aber sie gehören zu den Energiespeichern. Nur leider bin ich zu untalentiert, um erkennen zu können, wann in einem Kristall Energie gelagert ist.

"Nein, danke", lehne ich höflich ab. Als ich den Laden verlasse, blicke ich mich noch einmal um. Niemand außer Oliver, der draußen geduldig wartet, hat gesehen, dass ich dass ich hier war. Der Laden liegt eine Straße hinter der Hauptstraße, die zur Zeit nur so von Besuchern und Käufern wimmelt. Aber hier ist alles still.
"Haben Sie etwas Schönes gefunden, Flora?", fragt Oliver und lächelt mich an.
"Leider nicht", antworte ich. "Das nächste Mal vielleicht." Es muss das nächste Mal klappen. Es muss. Muss. Muss.
"Das nächste Mal dann", schmunzelt Oliver und betrachtet mich mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck.
"Was ist los, Herr Kremper?", frage ich. "Was brüten Sie hinter Ihrer Glatze aus? Raus damit."
Verlegen reibt er sich über das kahle Haupt und lächelt. "Sie sind viel unterwegs in den letzten Wochen, Flora. Ich freue mich jeden Tag, dass Sie eine Freundin gefunden haben. Verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise, es ist nur meine eigene Meinung, aber Sie wirken nicht mehr so lethargisch."
"Ja, die frische Luft tut mir gut", antworte ich nur ausweichend, in Gedanken schon an einem ganz anderen Ort.

Gerade ist eine Frau an mir vorbeigegangen, in den Händen die größte Muschel, die ich je in meinem Leben gesehen habe.

Fight or DieWhere stories live. Discover now