Who cares?

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Zwei Jahre danach:

„Ach Papa", seufze ich. „Was soll ich nur machen, wenn Harry weg ist?" Ich bücke mich, um die Blumen gerade zu rücken. Prompt wird mir schwindelig und meine Finger umklammern die Gehhilfe... Gehstock, Krückstock, Krücke, Krüppel... noch fester.
Eigentlich habe ich gerade Unterricht. Privat. In meinem Zimmer. Wie ein weggesperrtes Tier, das niemand sehen will.
Was sollte es mir nur bringen, den verfluchten Unterricht zu besuchen? Wenn ich in einem Jahr nicht mehr am Leben bin, wird mir der Unterricht bis dahin das Leben nicht gerade versüßen...süß, sauer, versauern...

„Dann komme ich dich besuchen", meine Stimme ist so leise, dass ich sie selbst kaum höre. Meine knochige Hand fährt die Umrisse des Grabsteins nach. Manchmal bin ich mir nicht sicher, was es für einen Unterschied macht, ob ich heute sterbe oder erst in einem Jahr. Und nur einen Moment später habe ich Angst vor mir selbst und den Stimmen in meinem Kopf.

„Ich habe Angst, Papa", gestehe ich mir selbst ein und lasse mich vorsichtig auf die Knie sinken. „So verdammt viel Angst." Und ich weiß nicht, mit wem ich sonst sprechen soll. Jeden Tag gräbt sich die Furcht ein brennendes Sandkörnchen mehr in meinen Bauch. Wenn ich nur daran denke, bekomme ich einen Knoten im Hals, die Worte ersticken ...entschwinden, sterben, Tod... mir in der Kehle.

Ich werde sterben.
Und egal, was ich mache, ich kann nicht davor weglaufen.

Um ehrlich zu sein, kann ich gar nicht mehr laufen. Gehen, ja. Aber laufen? Der Zug ist längst abgefahren.
Jeden Tag entzieht mir die Seuche weitere Lebensenergie. Jeden Tag sterbe ich ein bisschen mehr.

„Flo!", die helle Stimme reißt mich aus meinen dunklen Gedanken. „Flo, kommst du?" Ich drehe mich um und sehe meine kleine Schwester auf mich zulaufen. Ihr strahlendes Lachen wird zu einem leicht traurigen Lächeln, als sie sieht, dass ich an Vaters Grab stehe. Mal wieder.
Obwohl sie erst dreizehn Jahre alt ist, erkennt man schon jetzt, dass sie alle in der Familie eines Tages mit ihrer Schönheit überstrahlen wird.

Ihre glänzenden schokoladenbraunen Haare sind in einem ordentlichen Kranz um ihren Kopf geflochten. Ihre katzengrünen Augen mit den goldenen Funken strahlen mit der Sonne um die Wette. Atemberaubend ist ein Wort, dass sie nicht einmal ansatzweise beschreibt. Umwerfend, bezaubernd, fast schon unrealistisch, sie alle schaffen es nicht, Theas Anziehung auch nur zu zehn Prozent in Worte zu fassen. Ihre ganze Ausstrahlung ist so unbeschwert optimistisch authentisch... ganz anders als meine jetzt.

Thea ist der ganze Stolz meiner Mutter und die große Hoffnung meines Großvaters. Sie ist wunderschön und so klug wie talentiert. Endlich einmal zahlt sich das Geld aus, dass Großvater in unsere Erziehung investiert. Sie ist schon als Kind in der Lage gewesen, die Elemente besser zu manipulieren, als ich mit meinen siebzehn Jahren, als ich von der Schule genommen wurde. Ein Aushängeschild der Schule.
Manchmal hasse ich sie dafür, dass sie so perfekt ist. Doch dann heben sich ihre Mundwinkel zu einem dieser hypnotisierend sympathischen Lächeln und ich hasse mich dafür, sie auch nur eine Sekunde lang gehasst zu haben.

Denn auch wenn Großvater und meine Mutter sie mit Aufmerksamkeit übergießen, weiß ich nur zu gut, wie berechnend und kalt diese Aufmerksamkeit sein kann. Wie sehr sie einem aufführt, dass man immer einen Schritt von Perfektion entfernt ist. Wie sehr sie einen unter Druck setzen kann. Wenn gut niemals gut ...besser, am besten, müde, kaputt...genug ist.
Auch wenn die Stille Seuche mir viel genommen hat und noch mehr nehmen wird. Zumindest werde ich davon befreit sterben.

"Ich komme sofort", antworte ich, ein leichtes Lächeln umspannt meine Mundwinkel. Thea nickt und hüpft über das Gras zurück zum Haus. Pünktlich zum Abendessen hat sich der Himmel in ein grell orangenes Kleid geworfen, während die Sonne immer weiter auf den Horizont zutanzt. Auf meine Gehhilfe gestützt drehe ich dem farbenfrohen Firmament den Rücken zu und schleiche förmlich auf das Herrenhaus zu.

Drinnen warten schon alle am Esstisch. In dem riesigen Saal ist es still wie auf einem Friedhof. Nur das metallische Klappern des Bestecks durchbrach die Stille, ab und zu begleitet von dem Rascheln von Zeitungspapier.
Ich unterdrücke ein Seufzen. Langweiliger könnte ein Abendessen gar nicht sein. In solchen Momenten vermisse ich meinen Vater am meisten. Er hätte Leben in diesen Raum gebracht, wir hätten gelacht, uns gegenseitig aufgezogen. Er hätte sich über meine Kleidung lustig gemacht und Thea hätte ihm möglichst unauffällig das Gemüse auf den Teller geschoben, dass sie nicht mochte. Nur damit er sich keine Minute später lautstark darüber beschweren konnte. Und wenn meine Mutter einmal genug von unserem Geplänkel hatte, hätte er ihr so lange Komplimente heruntergebetet, bis sie wieder milder gestimmt war.

Aber er ist tot, sage ich mir immer wieder. Komm darauf klar. Und du kannst überhaupt nichts dagegen machen.
Was lange nicht heißt, dass es dadurch weniger wehtut.
Immer wieder verfluche ich den Herbsttag vor zwei Jahren. Warum bekommt ein vierundvierzig Jahre alter Mann plötzlich einen Herzinfarkt und muss so unglücklich auf den Bordstein fallen, dass er wegen einer Kopfverletzung verblutet?
Das war die zweite schlechte Nachricht -wenn man es so ausdrücken möchte -, die meine Familie in dem Jahr erhielt.
Seitdem ist nichts mehr, wie es mehr war.
Obwohl sich ein kleiner Teil von mir manchmal fragt, ob es nicht schon immer so war und erst dann ans Licht gekommen ist, wie kaputt unsere Familie eigentlich ist.

"Also Thea", mein Großvater hat seine Zeitung beiseite gelegt und mustert meine Schwester durch sein Monokel. „Gibt es Fortschritte in der Schule?" Ich bin die einzige, die mitbekommt, wie sie die Augen verdreht. Was ist auch sonst von Interesse? Aber sie nickt. Sie tippt sanft mit ihrer Hand auf den Tisch und von jetzt auf gleich haben sich meine dürftigen Salatblätter, der viel zu steife Porridge in ein Erdnussbutter-Marmeladenbrot verwandelt. Ich grinse ihr zu, während mein Tyson skeptisch sein Thunfischsandwich betrachtet, das sein Rührei mit Speck ersetzt hat.
„Was soll das sein?", fragt er und rümpft seine lange, gerade Nase.
„Ach Opa", beschwert sich Thea. „Probier es doch einfach mal." Meine Schwester ist die einzige, die Tyson so nennt. Bei mir würde sich alleine das Wort im Mund schon dazu führen, dass ich mich übergeben müsste. Aber jedes mal, wenn sie ihn so nennt, weichen seine sonst so kantigen Gesichtszüge auf. Auch jetzt, als er das Brot an den Mund führt und einen kleinen Bissen nimmt. Es schmeckt ihm.

„Flora." Ich wappne mich gegen das, was jetzt kommt. "Kannst du inzwischen zumindest eine Kerze anzünden?" Dumme Frage. Natürlich nicht. Das hatte sich auch nicht geändert seit er gestern gefragt hatte.
"Papa!", meint meine Mutter verärgert. "Du weist doch, dass sie Privatunterricht bekommt." Nicht einmal sieht sie mich dabei an. Als wäre ich ein Geist.
"Das sie krank ist, ist kein Grund sich auf die faule Haut zu legen!", entrüstet sich mein Großvater.

"Sie ist auch hier im Raum anwesend", brause ich auf. Ich habe es so satt, dass Leute über mich reden, als wäre ich nicht da...als wäre ich schon tot. Als wäre die Diagnose für die Stille Seuche gleichzeitig auch ein Urteil, dass einem die Selbstbestimmung entzieht und für dumm erklärt. "Und nein, ich kann keine Kerze anzünden und es auch nie können! Du kannst also aufhören nachzufragen! Das führt auch nicht dazu, dass ich mich im Unterricht mehr anstrenge."
"Gewiss nicht", schnappt mein Großvater zurück. "Das würde erfordern, dass du bei deinem Unterricht anwesend bist."

Kurz zucke ich zusammen, bevor eine neue Welle Zorn mich überrollt. "Was habe ich mir nur dabei gedacht, DICH zu kritisieren? Tut mir leid, dass ich meine letzten verbliebenen Jahre nicht damit verbringen möchte, in einem dunklen Raum mit jemandem eingesperrt zu sein, der Angst hat tot umzufallen, sobald ich zu tief ausatme!"
"Rede keinen Unsinn", meint mein Großvater. Als würde er mit einem trotzigen Kind diskutieren. "Deine Lehrer wissen genau, dass du ein Amulett trägst, dass verhindert, dass du andere ansteckst."
Nicht ein Wimpernzucken deutet darauf hin, dass meine Kritik bei ihm angekommen ist.
"Ich störe mich nicht an meinen Lehrern!", rufe ich aus. "Die sind mir so egal..."
"Das sollten sie aber nicht", unterbricht mich Tyson. "Mein Geld gewährt dir die beste Ausbildung..."
"Dein Geld interessiert mich einen Dreck!", ich kann mich nicht mehr zurückhalten, auch wenn ich sehe, dass Thea blass geworden ist. Dass es laut am Esstisch wird, kommt nicht oft vor.

"Was mich stört bist du!", werfe ich meinem Großvater an den Kopf. "Du und deine Attitude! Sieh endlich der Wahrheit ins Auge. All dein tolles Geld ist dann keinen Pfennig wert! Sieh es endlich ein! Ich bin krank und werde sterben!"
Thea und Mama zucken zusammen. All die Wut fließt aus meinem Körper. Es ist mir unangenehm, dass ich so herumgeschrien habe. Aber es war bitter nötig gewesen.

"Flora, hol bitte die Unterlagen für das heutige Dinner mit den Kunden aus dem Arbeitszimmer", die ungewöhnlich leise Stimme meiner Mutter durchbricht die Stille.
So schnell wie möglich fliehe ich aus der großen Halle, meine letzten Worte hängen noch wie ein dunkles Omen über dem Esstisch.

Fight or DieWhere stories live. Discover now