Kapitel 1 - Visite

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"Hey, Lewis! Lass uns was trinken!"

Gegröle.
Dexter sah sich selbst mit zwei Kumpels Shots trinken.
Er sah sich mit einem Kumpel total albern zu einer Schnulze tanzen.
Er sah sich, wie er mit einem Kumpel draußen frische Luft schnappte.
Er sah sich und andere weiter trinken.
Cut.

Er kam nicht weiter. Er zerbrach sich den Kopf auf der Suche nach Erinnerungen. Aber er fand sie einfach nicht. Sein Blick glitt traurig wieder zu seinem Krankenbett.

Er hatte immer gewusst, dass es Lykanthropen gab. Jeder tat das. Aber Dexter kannte keinen persönlich. Es hieß, einer in seiner Parallelklasse wäre einer gewesen. Aber vielleicht war das auch nur erzählt worden? Es gab zahlreiche Witze zu dem Thema. Wenn man zum Vollmond in der Schule fehlte, wenn man in der Nacht in den Himmel sah, oder Heulgeräusche machte, weil man einen Ball in die Eier bekommen hatte, zum Beispiel. Es gab unglaublich viele Witze oder fiese Bemerkungen, oder wie immer man das auch nennen wollte. Aber sie hatten Dexter eben nie betroffen. Er hatte da nie groß Gedanken dran verloren. Man redete halt so. Gehörte eben zum guten Ton. Verstanden doch alle Spaß, oder?

Die bittere Wahrheit war: Jetzt gerade war Dexter kein bisschen zum Lachen zu Mute. Er wollte weinen und sich bis an sein Lebensende im Bett verkriechen.

Er wusste nicht, was er machen sollte. Noch vor einer Woche hatte ihm die Welt offen gestanden. Und jetzt? Wurde er bestraft, für einen Gewaltakt an ihm. Das vorsätzliche Beißen gegen den Willen der jeweiligen Person war Werwölfen verboten. Ganz einfach. So besoffen wie er war hatte er gar nicht zustimmen können. Selbst wenn er das gewollt hätte. Also hatte der Werwolf sich strafbar gemacht, der ihn gebissen hatte. Suchte den wer?! Saß der hinter Schloss und Riegel?!

Selbst wenn, dachte Dexter dann wieder: er war bereits infiziert. Würde ihm da nicht eine Entschädigung zustehen? Schmerzensgeld? Irgendwas?

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür erneut.

Ein zitternder Pfleger trat ein. Na toll. Der war vermutlich nicht viel älter als Dexter. Aber statt mit ihm herum zu albern oder so, sah er aus, als würde er sich gleich in die Hose machen.

"Ich... ich bringe... das Essen..", stammelte der Pfleger und schmiss sein Tablett halb um, bei dem Versuch, es auf dem Tisch zu platzieren und gleichzeitig nicht zu weit von der Tür weg zu gehen.

"Danke... ich... ähm.. ich tue nichts...", fühlte sich Dexter genötigt klar zu stellen. Was sollte er auch tun? Dem Typen das Hosenbein hoch reißen und an seinem Schienenbein kauen? Machten Lykanthropen das? Stellte sich Dexter ja gerade mal sehr sehr ekelig vor. Also da hatte er wirklich kein Verlangen nach. Würde er das noch bekommen?

"Oh... das ist.. nett. Dankeschön...", stammelte der Pfleger und navigierte noch Dexters Schmerztabletten aufs Tablett. Armer Junge. Das hätte er bestimmt lieber auf dem Flur gemacht.

"Ähm... Entschuldigung, aber.. könnte ich wohl mal mit jemandem sprechen..? Also... weil ich ja nicht weiß... und...", begann Dexter abgehackt zu erklären.

"Oh.. äh... es tut mir außerordentlich leid, aber ich bin da leider nicht befugt... aber die Visite nachher.. da können sie bestimmt Ihre Fragen stellen...", haspelte der nervöse Mensch vor ihm und Dexter fühlte sich schlecht dabei, dem weiter Angst zu machen. Also zwang er sich zu einem gequälten Lächeln und nickte nur knapp.

Okay. Lächeln war offenbar keine gute Idee. Der Typ rannte einfach raus und schloss die Tür hinter sich mit einem Knall. Wow.

Dexter wusste, dass er keinen Besuch empfangen durfte. Aktuell durfte nur geschultes Personal zu ihm. Vielleicht sollten sie Dexter auch Mal einen Crashkurs geben? Damit er überhaupt Mal wusste, was nun eigentlich gerade mit ihm passierte?

Oder das geschulte Personal soweit schulen, dass er sich nicht vorkam, wie der größte Massenmörder seit Jack the Ripper?

Dexter ging zum Tisch und setzte sich vor die abgedeckte Haube.

Er solle auf eine ausgewogene Ernährung achten, hieß es. Klang doch toll. Sollten doch immer alle, oder?

Kartoffeln, Fleisch und Gemüse fanden sich auf seinem Teller. Alles sah großküchenmäßig aus, aber schmeckte eigentlich ganz gut.
Dafür gab es als Dessert diesen doofen Fruchtcocktail aus der Dose. Dadrin war Ananas. Und wo Ananas drin war, schmeckte hinterher alles nach Ananas. Dexter mochte keine Ananas und Birne und Pfirsich die nach Ananas schmeckten auch nicht. Das Dessert würde also heute für ihn ausfallen.

Er nahm die Tablette. Wusste genau, dass er etwa zwanzig Minuten später genau merken würde, wie die Wirkung eintreten würde. Noch klappte das so. Denn in einigen Wochen würden die meisten Tabletten bei ihm nicht mehr, oder weniger, oder viel zu viel oder gänzlich anders wirken. Es gab nur eine Handvoll Medikamente, die extra für Lykanthropen zusammengestellt waren. Man würde robuster werden, hieß es. Es gab aber wohl auch einfach keinen Lobby, die ein Interesse daran hätte, etwas an diesem Zustand zu ändern.

Seufzend begann Dexter zu essen, obwohl er eigentlich keinen Hunger verspürte. Immerhin war er so beschäftigt.

Irgendwann kamen tatsächlich gleich fünf Leute in sein Krankenzimmer.

"Guten Tag, Mr Lewis. Wie geht's?", fragte der Älteste von ihnen, der erfreulicherweise entweder keine Angst hatte oder aber sie nicht zeigte.

"Hallo... unverändert, würde ich sagen..."
"Na, dann lassen sie uns mal sehen. Bitte einmal den Mund öffnen."

Dexter tat es sofort und wenigstens drei Menschen gingen einen Schritt zurück.

"Sooo.", begann der Arzt und gab Zahlenkombis durch. Alles unauffällig, hörte Dexter nur heraus. Aber dann kams.

"Einsdrei, zweidrei, dreidrei und vierdrei entsprechend des Status. Kommen sie ruhig näher, meine Herrschaften. Sehen Sie sich die Eckzähne ruhig genau an. Wir sehen bereits ein deutlich spitzeres Profil und eine Vergrößerung der Zähne im Allgemeinen."
Dexter sackte sein Herz in die Hose. Er wollte keine Riesenhauer im Mund haben.

"Entschuldigung... kann man dagegen etwas tun?", fragte er und hoffte, er hätte den Mund nicht länger auflassen sollen.

"Sie können sie schleifen lassen. Dauert drei Stunden für vier Zähne. Kostenpunkt: 300 Pfund. Allerdings wachsen die schnell nach. Im Gegensatz zu unseren Haushunden wechselt das Gebiss bei Lykanthropen. Fällt ein Zahn raus oder wird beschädigt, wächst ein Neuer nach."

Das war für Dexter das erste Mal gewesen, dass man ihn mit einem Hund verglich.

Werwolf wider Willen - wird fortgeführt auf StorybanWhere stories live. Discover now