basti - heiligabend

284 13 12
                                    

Ich war heute den ganzen Tag allein, an Weihnachten. Meine Freunde sind alle mit ihrer Familie zusammen. Ich verstehe, warum sie nicht hier sind, aber ich wünsche mir so sehr, dass sie es wären. An Weihnachten allein zu sein ist nicht das Angenehmste, es sei denn, man ist schon dran gewöhnt. Sonst fühlte ich zumindest bei meiner Großmutter wohl, die jedoch an Neujahr verstarb. Zu meiner Familie wollte ich nicht. Ich wollte sie nicht sehen, keine Zeit mit ihr verbringen. Viel zu sehr hämmerten die Ereignisse der vergangenen Jahre in meinem Kopf. Ich war also schon den ganzen Tag zu Hause gewesen. Erst lag ich einsam in meinem Bett. Ein Doppelbett. Wie lächerlich. Als würde jemals irgendjemand dieser Platz gehören. Doch so war ich alleine mit meinen Gedanken. Ich hasse meine Gedanken. Ich hasse sie so unfassbar. Du hast das falsch gemacht. Du hast dies falsch gemacht. Warum hast du dich so verhalten? Warum hast du das nicht anders gemacht? Warum hast du das nicht geschafft? Warum? Warum? Warum? Dumm, dumm dumm, ich war dumm, so dumm. Um mein Gehirn zu betäuben spielte ich Musik ab, doch es half nichts. Dann wird wohl Arbeit die Lösung des Tages sein. An Weihnachten arbeiten. Andere würden mich für verrückt erklären, ich hingegen war es gewohnt.

Also setzte ich mich an meinen PC und fuhr ihn hoch. Langsam baute sich der Startbildschirm mit den installierten Apps auf. Kaum war er richtig hochgefahren, bekam ich ganz viele Discord Benachrichtigungen. Ding, Ding Ding... Es hörte gar nicht auf, war schon fast schmerzhaft in den Ohren, sodass ich erstmal meine Lautstärke etwas herunter regelte. Auf meinen mittleren Bildschirm, unten rechts, erkannte ich auf einem Pop-up Fenster die Nachrichten. Wie erahnt, jeder wünschte mir ein frohes Fest. 'Hey Basti, hoffe du feierst schön mit deiner Familie <3 Gönn dir ein bisschen Ruhe und Erholung und verbring Zeit mit deinen Liebsten' stand so ziemlich in jeder einzelnen dieser Nachrichten. Ich wollte schreien. Schreien, einfach nur weg. Niemand wusste, wie einsam ich war. Niemand konnte es auch nur erahnen. Wie denn auch? Sie sehen ja nur den fröhlichen BastiGHG, der jeden Tag auf Twitch streamt. Lediglich Kevin kannte ebenfalls den Bastian, doch auch dieser feierte gerade mit seiner Familie.

Jedes Mal wenn ich durch die Stadt laufe sehe ich die bunten Lichter und will weinen. Jedesmal höre ich Gesänge und will weinen. Jedesmal sehe ich glückliche Familie und will nicht mehr existieren. Ich musste arbeiten. Ich konnte nicht anders. Irgendwas musste ich tun, sonst flipp ich aus. Gestreamt hatte ich bereits heute früh schon. Kurzerhand schrieb ich Silas an, ob er noch etwas zum Schneiden für mich hätte. Silas antwortete schnell und sicherte mir prompt seine ganze Unterstützung zu. "Du musst doch nicht an Weihnachten arbeiten, Basti! Wenn wir noch ein Projekt offen haben, werde ich mich darum kümmern. Mach dir keine Sorgen" Ich konnte dieses Wort nicht mehr hören. Weihnachten. Volle Läden, leere Regale, volle Straßen, Kälte, Nässe. Mich erfüllt es mit Freude, wenn meine Freunde sich auf das Fest freuen, doch nur allein deswegen bin nicht auch ich glücklich. Er wollte mir meine einsamen Weihnachten erleichtern. "Schon gut, lass es bleiben. Ich mache es schon. Ich brauche auch die Arbeit", schrieb ich ihm und starrte auf den Monitor.

Die Zeit bis zum Abend verbrachte ich mit einigen kleineren Edits. Ich hatte zwar nicht viel zu arbeiten, aber es fühlte sich gut an, etwas zu tun. Als mein PC anzeigte, ich hätte eine neue Nachricht bekommen, wurde mir schon etwas bange. Eine weitere Benachrichtigung von einem meiner Freunde, der mich fragt, was ich an Heiligabend wohl so mache, konnte ich nicht ertragen. "Basti, was machst du heute an Weihnachten?" stand in der Nachricht. Ich wollte sie nicht beantworten. Das war keine gute Frage, das war eine Frage, die mir nur die Einsamkeit an diesem Abend vor Augen führen sollte. Aber ich konnte diese Frage nicht einfach unbeantwortet lassen. Ich dachte mir fast, dass ich einfach lügen könnte, doch meine Freunde würden wahrscheinlich wissen, wenn ich das täte. "Bis jetzt hab ich gestreamt und bisschen Videomaterial geschnitten... später ess ich noch ein bisschen Kuchen :)" Ich hätte es am liebsten sofort bereut, diese Textnachricht verschickt zu haben. Hätte ich nicht einfach schreiben können 'ich bin bei meiner Familie'? Schon bald darauf kam eine Antwort, doch ich las sie mir gar nicht durch. Ich wusste sehr wohl, dass ich mal wieder konfrontiert wurde für die Arbeit. Genau das bräuchte ich jetzt nicht. Ein Stream würde es eher tun. Also gab es eben zwei Streams an diesem Tag, warum denn auch nicht?

Ich begrüßte routiniert den Chat und erzählte eine Lüge, warum es heute noch einen Stream gab. Mitten im Satz wanderte mein Blick zum Chat. 'Basti so ein einsamer Hund, dass er an Heiligabend zwei mal live geht OMEGALUL' Ich stockte mit meinem Satz und konnte nicht weiter reden. Diese Nachricht hat mir den Rest gegeben. Leider las ich genau diesen Inhalt sogar öfters. Zu wissen, dass das alles warscheinlich 10-16 Jährige waren, die gerade eben Zeit mit ihren Liebsten verbringen, brachte mich zu einer ungewöhnlichen Wut. Warum sie, aber ich nicht? Etwas in mir zerbrach mit jeder weiteren Nachricht die ich durchlas. Jeder wünschte mir ein frohes Fest. In diesem Moment fühlte ich mich, wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Ich war an diesem Weihnachten wirklich an meinem Tiefpunkt. Es war mein bisher einsamstes Weihnachten überhaupt. Und all diese Scherze über meine 'angebliche' Einsamkeit, die tatsächlich vorhanden war, waren wirklich ein Schlag ins Gesicht. Mein Stream endete deswegen nur zwei Stunden später. Ich war so am Ende, dass ich am liebsten das ganze Jahr lang nicht mehr gestreamt hätte. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte einfach nicht mehr. Ich fühlte mich wie ein Versager. Wie ein einsamer Versager.

Ich schrieb meine Freunde an: 'Können wir kurz reden?' Jedem einzelnen von ihnen schickte ich diese vier Wörter. Irgendjemand musste ja antworten. Es kostete mich viel Überwindung. Normalerweise fragte ich nie nach Hilfe, aber ich konnte nicht anders. Ich war an einem Tiefpunkt. Ich brauchte einfach jemanden, sonst tu ich mir noch was. Doch auch eine Stunde später kam keine Antwort. Lediglich Toni schrieb: 'Sorry, bin gerade bei meinen Eltern. Aber wenn du willst können wir nach den Feiertagen reden <3' Zumindest antwortete sie. Aber bis dahin nützte es mir auch nichts. Ich fuhr meinen PC runter und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank nahm ich mir einen Kuchen, den ich vor ein paar Tagen gekauft hatte. 'Frohe Weihnachten' stand mit Zuckerschrift oben drauf. Ich aß. Ich aß alles. Ich konnte nicht aufhören. Irgendwann kamen Tränen und die ganze Frust trat hervor. Ich aß immer weiter und weiter. Immer mehr Frust, immer mehr Tränen. Schlussendlich hatte ich einen ganzen Kuchen alleine gegessen. Mit vollem Magen ließ ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Warum hab ich jetzt schon wieder so viel gegessen? Womit habe ich das verdient?

Es dauerte nicht lange, da kamen schon die ersten Anzeichen von meinem kleinen Essanfall. Mir wurde kotzübel und ich konnte meinen Magen hören. Sofort bereute ich alles. Meine Gedanken warteten nur auf so einen Moment, bei dem ich über mein Leben nachdachte, damit sie mich wieder mit meinem vergangenen Ich nerven können. Als würden sie an der Innenseite meines Schädel kleben. Ich spürte die Magensäure hochkommen und stand ruckartig von meinem Stuhl auf, wobei ich mich erstmal an der Tischecke stieß. Bis zum Klo schaffte ich es nicht, weswegen ich meinen Mageninhalt in das Küchenwaschbecken entleerte. Dann kamen wieder die Tränen. Ich war noch immer am Husten, als ich die Küche nach meiner Schande aufräumen wollte. Sofort war mein Gehirn wieder auf den letzten Stand gesetzt und erinnerte sich an alles. All die Kommentare, der Essanfall, das Erbrochene. Es musste einfach raus. Ich schlug auf die Wand ein. Immer weiter und weiter. Ließ meine ganze Wut einfach raus, bis meine Handknöchel blutig waren. Kraftlos schluchzend sank ich an der Wand entlang zu Boden und zog meine Beine zu mir ran. Was nun? Ich wollte einfach nicht mehr. Mein ganzer Körper, meine Schultern, mein Gesicht, meine Handknöcheln. Alles tat so weh. So unfassbar weh. Und meine Gedanken waren wie ein Albtraum. Ein Schrei aus meinem Inneren. Ein Schrei vor Scham. Wie konnte das passieren? Wie konnte ich so versagen, dass ich meinen eigenen Körper zerstörte? Mein Magen war komplett zerschlissen und mir liefen die Tränen die Wangen runter.

Wie konnte es so weit kommen? Was hatte ich überhaupt hier verloren? Niemand hatte mich hier gebraucht, und niemand interessierte sich wirklich für mich. Es gab auch keinen Grund für irgendjemanden, an mich zu denken. Niemand wusste, wie unglaublich traurig und einsam ich in meiner Bude sitzen musste, während alle anderen ihre Freude und ihren Spaß zusammen hatten. Ein einsamer Versager. Ich wusste einfach nicht weiter. Es schien ein endloser Kreislauf zu sein, aus dem ich nicht mehr heraus konnte. Alles, was ich jemals wollte, war nicht einsam zu sein. Doch nichts davon hatte funktioniert. Nichts davon. Meine Freunde antworteten nicht. Sie waren nicht mehr da. Niemand war hier, außer mir und meine Gedanken, die mich in den Wahnsinn trieben. Es schien, als wäre das meine Schuld. Als wäre alles meine Schuld. Es war ja auch meine Schuld. Ich hatte dieses Leben angenommen. Jedes Mal, wenn ich versucht hatte, ein normales Leben zu führen, war es schiefgegangen. Immer und immer wieder. Warum dann überhaupt aufstehen und weitermachen? Warum überhaupt leben?

Irgendwann warf ich meinen Kopf nach hinten und starrte an die Decke. Meine Gedanken kreisten weiter und weiter. In meinem Kopf war ein regelrechter Krieg entfacht, während ich immer weiter in die Tiefe sank. Langsam wurde die Welt um mich herum still und dunkel. Ich kümmerte mich nicht um meine blutenden Hände. Es war mir egal. Ich wollte einfach einschlafen und am liebsten nächstes Weihnachten nicht mehr erleben.

frohe weihnachten oder so

oneshotsWhere stories live. Discover now