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Als ob sie nicht eben erst schwerbepackt einen Marsch von mehreren Stunden hinter sich gebracht hatten, liefen Joran und Tia mit neuer Energie quer über die Wiese. Erst bei den Baustellen für die neuen Häuser stoppten sie und musterten neugierig den Fortschritt.
„Ende der Woche werden wir bereits hierher ziehen", erklärte Yagon, der ihnen gefolgt war.
„Wir hatten zwar erst überlegt, bis zum nächsten Vollmond zu warten, aber wir waren uns dann alle einig, lieber so schnell wie möglich das alte Dorf aufzugeben.
Wir rechnen alle damit, dass die Blutsauger unser Dorf zum nächsten Neumond angreifen werden. Somit muss es bis dahin verlassen sein. Wir dürfen keinerlei Spuren zurück lassen.
Es wird ein enger Zeitplan und es werden bei weitem nicht ausreichend Häuser zur Verfügung stehen, aber für den Anfang muss es reichen."

Nachdenklich nickte Tia. „Ende der Woche...also kurz vor Neumond...", rechnete sie nach.
„Richtig", bestätigte ihr Onkel.
„Wie soll das klappen? Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Kisten gepackt, Yagon. Und auch von den gepackten Truhen ist nur ein Bruchteil bereits hier..."
Fragend blickte Joran zu dem älteren Werwolf. Dieser seufzte leicht auf und zuckte hilflos die Schultern.
„Ich weiß es auch nicht. Wahrscheinlich werden wir einen Großteil der Sachen in der Höhle zurück lassen und den Zugang versperren. Sobald dann etwas mehr Ruhe eingekehrt ist, können wir sie mit etwas Glück noch holen."
Fassungslos schüttelte Tia den Kopf. „Ihr müsst einfach viel mehr Rudelmitglieder einspannen und helfen lassen."
Sie blitzte ihren Onkel an, als dieser sie unterbrechen wollte. „Ich weiß selbst, dass wir die älteren Wölfe aufhalten. Aber wie wäre es mit einer Art ... Kette? Die Halbwüchsigen transportieren die Truhen das erste Stück des Weges. Das Kürzeste. Sobald sie sich zu weit vom Dorf entfernen würden, übernehmen andere die Truhen, die wiederum von weiteren Erwachsenen abgelöst werden ...."

Yagon sah seine Nichte verblüfft an. „Das klingt nach einer wirklich interessanten und vielversprechenden Idee, Tia. Ich werde auf jeden Fall mit deinem Vater darüber reden. Vielleicht ist das wirklich die Lösung..."
Tia grinste. „Siehst du? Ihr könnt uns Halbwüchsigen ruhig mehr zutrauen", erwiderte sie triumphierend, bevor sie sich an ihren Freund wandte.
„Aber jetzt lass uns die Zeit nutzen und die Gegend erkunden, Joran."

Gemeinsam liefen sie über den Hang, stoppten aber – wie versprochen – jeweils am Rand der Lichtung.
Schließlich gelangten sie an den Waldrand am oberen Ende des Hanges.
Neugierig trat Tia ein Stück näher an die Bäume heran.
„Tia...wir haben es versprochen...", mahnte Joran.
„Jaja...ich weiß", winkte Tia ab und trat zwischen die ersten Bäume. „Aber schau mal dort..."
Mit der Hand wies sie auf einen seltsam geformten Geröllhügel, der nur wenige Meter hinter der Baumgrenze lag.
Joran runzelte die Stirn. „Ein paar Felsbrocken...was soll damit sein?"
Die junge Frau brummte leicht unwillig.
„Pass du auf, dass keiner zu uns kommt. Ich will mir das näher anschauen..."
„Tia..."
Erneut sah der junge Mann seine Freundin ernst an. „Du hast es versprochen."
„Ach komm... sei kein Spielverderber. Es sind doch nur ein paar Meter..."
Mit einem Seufzen gab Joran sich geschlagen. „Nagut...aber beeile dich..."
Unauffällig ließ er seinen Blick über die Lichtung schweifen und stellte sicher, dass keiner der Erwachsenen sie beobachtete.

Noch bevor er sich wieder zu Tia umdrehen konnte, war diese hinter dem Geröllhaufen verschwunden. Bereits im nächsten Augenblick ertönte ein unterdrückter, spitzer Schrei.
Schnell warf Joran einen Kontrollblick zu den Anderen, doch keiner schien etwas mitbekommen zu haben.
„Tia...?!" rief er leise. „Ist alles in Ordnung?"
„Ja!" kam es gedämpft zurück.
Rasch lief Joran auf den Felsen zu und umrundete ihn ebenfalls, doch von seiner Freundin war nichts zu sehen. Suchend umrundete er die Felsbrocken ein weiteres Mal.
Als er erneut an der Rückseite angekommen war, ertönte ein leises Kichern.
„Hier bin ich, Joran."
Joran runzelte die Stirn und beugte sich näher an die Felsen heran, bis er eine schmale Felsspalte entdeckte – gerade groß genug, dass er sich hindurchzwängen konnte.
„Sei vorsichtig, wenn du zu mir kommst. Bereits nach den ersten Schritten geht es ein gutes Stück hinunter..."
Der junge Wandler brummte unwillig und trat langsam durch die Spalte, wobei er vorsichtig mit seinen Füßen den Untergrund abtastete.

Wie Tia gesagt hatte, fiel bereits nach etwas zwei Schritten der Boden stark ab und Joran schlitterte einen steilen Abhang hinab.
Unten angekommen dauerte es nur einen kurzen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die strahlenden Augen seiner Freundin sehen konnte.
„Hier gibt es ein Höhlensystem. Wie im alten Dorf. Meinst du, die Gänge sind miteinander verbunden?"
Joran zuckte leicht die Schultern. „Gut möglich, aber keine Ahnung. Du weißt, dass es nicht erlaubt ist, die Gänge zu erkunden, nachdem vor Jahrzehnten einige Kinder verschwunden sind...."
Tia winkte ab. „Pah...Die haben einfach nicht aufgepasst. Wenn wir zurück sind, sollten wir versuchen, das heraus zu finden...oder noch besser...."
Die junge Frau grinste ihren Freund unternehmungslustig an.
„Heute Nacht, wenn alle schlafen, kommen wir hierher zurück und erkunden von hier aus die Gänge..."

Joran wurde einer Antwort enthoben, als eine laute, leicht verärgerte Stimme über die Wiese schallte.
„Tia, Joran...?! Wo seid ihr?"
Beide Jugendlichen fluchten gleichzeitig auf.
„Schnell...raus hier, bevor sie uns entdecken..." raunte Tia ihrem Freund zu und begann bereits, den Abhang hinaufzuklettern. Joran folgte ihr auf dem Fuß und kurz darauf standen beide wieder zwischen den Bäumen.
Mit Erstaunen realisierten sie, dass die Sonne bereits die Wipfel der Bäume berührte.
Tia fluchte leise. „Wir müssen länger weg gewesen sein, als gedacht..."
Erneut erklang Yagons Stimme – dieses Mal eindeutig verärgert. „Tia! Joran! Kommt augenblicklich her."
Joran schluckte schwer und blickte seine Freundin fragend an, die bei weitem nicht so unsicher wirkte.
„Überlass es einfach mir...ich habe schon eine Idee..."

Zweifelnd blickte der junge Mann sie an, folgte ihr aber dann auf die Wiese hinaus.
„Wir sind hier, Onkel...", rief Tia, kaum, dass sie die Wiese betreten hatte.
Bereits im nächsten Augenblick stand Yagon neben ihr und blitzte die beiden Kinder wütend an.
„Wo seid ihr gewesen? Ich dachte, wir hatten eine Abmachung..."
Tia senkte betreten den Kopf und trat leicht von einem Bein auf das Andere.
„Tut mir Leid, Onkel Yagon...Aber..." Sie zögerte einen Moment, gerade lang genug, damit sich Yagon ihr gänzlich zuwandte.
„Aber...?" fragte er streng, jedoch nicht mehr ganz so wütend nach.
„Ich...ich musste mal...", erklärte Tia verlegen. „Nur deshalb bin ich ein Stück zwischen die Bäume gegangen. Und Joran hat aufgepasst. Er hätte jeden Moment Hilfe holen können..."
Der ältere Werwolf brummte leicht unwillig. „Nagut...nächstes Mal sagst du Bescheid, junge Dame. Verstanden?"
„Ja, Onkel Yagon", erwiderte Tia gehorsam.
Innerlich atmete sie erleichtert auf, dass ihr Aufpasser auf diese Finte hineingefallen war. Vermutlich war er viel zu froh darüber, dass seinen beiden Schützlingen nichts zugestoßen war, dass er die schwache Ausrede nicht hinterfragte.
„Kommt jetzt. Es wird gleich dunkel werden und die Anderen haben bereits das Abendessen gerichtet."

Die Julius Chroniken - Teil 1: Die ProphezeiungWhere stories live. Discover now