12.

23 3 0
                                    


Leon blickte aus dem Turmfenster seiner Wohnung. Tief atmete er die kalte Herbstluft ein. Die Wälder rund um die Burg lagen in Nebel gehüllt, in dem sich die Sonnenstrahlen brachen.
So früh am Morgen war noch alles still. Lediglich die ersten Vögel hatten bereits ihren Morgengesang angestimmt.
Als es klopfte, drehte sich der junge Prinz um.
Mit nacktem Oberkörper, gekleidet lediglich in eine dünne Leinenhose, wandte er sich der Tür zu.
So früh am Morgen standen seine Haare noch wilder vom Kopf ab als sonst, doch das störte ihn nicht.
Auf sein leises „Herein!" öffnete sich die Tür und eine junge, menschliche Dienerin betrat die Wohnung. Sie war vielleicht zehn Jahre alt. Die roten, lockigen Haare waren seitlich am Kopf entlang geflochten, bis sie sich in einem geflochtenen Zopf am Hinterkopf trafen. Gekleidet war sie in die übliche Dienstbotenuniform – ein graublauer Kittel mit einem weißen Kragen, dazu eine weiße Schürze. Lediglich das Abzeichen an ihrem Kragen wies sie als zur persönlichen Dienerschaft zugehörig aus.

Lächelnd verneigte sie sich vor Leon. „Guten Morgen, Prinz Leon. Ich hoffe, Ihr hattet eine geruhsame Nacht?"
Der junge Vampir unterdrückte ein Seufzen. Es war jeden Tag das Gleiche – ganz egal, wer aus der Dienerschaft ihn am Morgen als erstes aufsuchte.
‚Wünsche wohl geruht zu haben!, Habt Ihr irgendwelche Wünsche?, Wie geht es Euch heute?, Kann ich irgendetwas für Euch tun?", äffte er die diversen Sprüche der Diener in Gedanken nach.
Als ob es auch nur einen von ihnen ernsthaft Interessieren würde, wie es ihm ging oder was er wollte. Nein, es gehörte schlichtweg zu ihren Aufgaben. Zumindest, wenn es nach seinem Vater ging. Er selbst hätte auf diese Chose gerne verzichten können, denn ehrlich gemeint war es ohnehin nicht.
„Nein ich habe die ganze Nacht über die Dächer getanzt, Nuri", erklärte er ernsthaft.
Das junge Mädchen blickte ihn verwirrt an. „A...aber..." setzte sie an.
Leon lachte leise, aber fast schon frustriert. „Das war ein Spaß, Nuri", löste er die Situation auf.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du diese albernen Fragen nicht stellen brauchst, wenn es dich nicht wirklich interessiert..."
Die Dienerin errötete leicht. „Ich wollte es aber wirklich wissen, Prinz Leon. Die anderen Diener haben erzählt, dass Ihr gestern noch eine lange Besprechung hattet und dass wohl sehr viel diskutiert wurde..."

Leon zog leicht die Augenbrauen zusammen. „Welche Diener haben denn da wieder geplaudert?"
Nuri wurde blass und begann zu stammeln. „Sie...es...sie haben nicht wirklich was erzählt, Hoheit. Nur dass es sehr lang ging. Und eben dass es immer wieder...lauter...wurde."
Der Prinz winkte ab. „Schon gut, Nuri. Ihr werdet es alle ohnehin früher oder später erfahren. Und jetzt komm endlich rein und mach die Tür hinter dir zu."
Noch immer verlegen betrat die junge Frau die Wohnung und schloss die Tür.
Der Vampir ließ sich in einen Sessel sinken und beobachtete Nuri, wie diese auf seinen großen Kleiderschrank zuging und diesen öffnete.
Das Mädchen wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, als Leon sie unterbrach.
„Wir haben gestern Abend einen großen Fortschritt in diesem Krieg gemacht. Es hat sich Einiges ergeben, das sich zu unseren Gunsten auswirken wird. Wenn alles klappt, wie geplant, könnte der Krieg bald zu Ende sein.", erklärte er ihr unvermittelt.
Mit großen Augen sah Nuri ihren Dienstherren an, der ihren Blick amüsiert grinsend erwiderte, dann jedoch deutlich ernster wurde.
„Auch wenn ich dir keine Details verraten habe, meine liebe Nuri, wirst du nichts von dem, was ich dir gerade gesagt habe, weitererzählen. Haben wir uns verstanden?"
Das Mädchen machte einen respektvollen Knicks. „Ihr habt mein Wort, dass ich nichts weiter erzählen werde, Prinz."
Leon nickte zufrieden. „Dann ist alles in Ordnung."

Nuri lächelte verlegen und wandte sich dann wieder dem Schrank zu.
„Was wünscht Ihr heute anzuziehen, Prinz?"
Kurz schien Leon zu überlegen, dann schmunzelte er. Entspannt lehnte er sich zurück und musterte das Kind vor ihm. „Heute steht nichts besonderes an. Ich würde zwar gerne einen Ausritt machen, doch es ist fast Vollmond."
Verständnisvoll nickte die Dienerin.
„Ich werde daher den Tag wohl eher in der Bibliothek oder in meinem Büro verbringen."
Erneut nickte Nuri, blickte aber dennoch fragend zu Leon.
„Entscheide du also, welche Kleidung ich heute anziehen soll", forderte Leon das Mädchen schließlich auf.
Sichtlich überrascht knickste Nuri. „Wie Ihr wünscht, Prinz."
Mit nachdenklicher Miene wandte sie sich dem Schrank zu und ließ ihre Finger suchend über die Reihen an Kleidung gleiten.
Schließlich griff sie nach einem schlichten, hellgrauen Hemd, dazu eine weiche und bequeme dunkelgraue Hose. Nach kurzem Überlegen holte sie noch eine dazu passende Weste mit aufwändigen Stickereien hervor.
Mit den drei Teilen in der Hand trat sie vor den Vampir und blickte ihn fragend an.
Schmunzelnd nickte der junge Mann. „Eine gute Wahl, Nuri. Schlicht und bequem und dennoch edel. Das ideale Outfit für einen Tag wie heute.
Während die Dienerin die Kleidung auf einen stummen Diener hängte, blickte sie fast schon verlegen zu Leon, der leise lachte.
„Ich weiß, dass mein Vater sich gerne ankleiden lässt und auch möchte, dass ich das ebenso halte, doch bin ich, glaube ich, alt genug und noch nicht ZU alt, um das selber tun zu können.
Was hältst du also davon, wenn du mir schonmal einen Becher Blut eingießt, während ich mich anziehe?"
Mit geröteten Wangen und sichtlich erleichtert nickte Nuri. „Ich richte nebenan alles her, Hoheit", erklärte sie und verschwand im Nebenraum.

Wenige Minuten später betrat auch Leon den Nachbarraum.
Am Tisch stand bereits ein Becher mit Blut für ihn bereit.
Während er sich an den Tisch setzte um in Ruhe das Blut zu trinken, kehrte Nuri zurück in das Schlafzimmer, um das Zimmer aufzuräumen und das Bett zu machen.
„Nuri...?" rief Leon sie nach einer Weile zu sich.
Sofort kam das Mädchen zu ihm und blickte den Vampir fragend an.
„Wie bist du heute eingeteilt? Sollst du bei mir bleiben oder hast du andere Aufgaben?"
„Ich bin heute den ganzen Tag für Euch eingeteilt, Prinz Leon."
Der Vampir trank den Becher aus und stellte ihn zurück auf den Tisch.
„Sehr gut. Dann möchte ich, dass du hier fertig aufräumst und danach zu mir in die Bibliothek kommst."

Auf dem Weg in die Bibliothek schüttelte Leon leicht den Kopf. Nuri war eine der jüngsten Dienerinnen. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass sie von dem schlichten, und zum teil anstrengenden Küchendienst abgezogen wurde. Sie war noch jung. Er sah keinen Sinn darin, die Fähigkeiten des Mädchens verkümmern zu lassen, wenn sie statt dessen zu einer vertrauensvollen und zuverlässigen Dienerin werden konnte.
Nachdem sein Vater ihm ohnehin nicht gestatten würde, heute die Burg zu verlassen, würde er sich einen ruhigen und entspannten Tag in der Bibliothek machen. Nuri konnte ihm dabei Gesellschaft leisten, ihre noch schwachen Lesefähigkeiten ausbauen und sich dabei weiterbilden.
Kurz darauf betrat er bereits die Bibliothek. Suchend ließ er seinen Finger über die Regale gleiten, bis er gefunden hatte, was er suchte.
Mit einem Grinsen zog er ein Buch heraus, ging zu seinem Lieblingssessel, legte das Buch auf das Tischchen daneben und griff statt dessen nach dem Buch, das er zur Zeit las.
Erst als es klopfte und sich kurz darauf die große Flügeltür öffnete, blickte er auf.

„Komm rein Nuri."
Er wartete, bis das Mädchen vor ihm stand und ihn erwartungsvoll ansah.
„Mach bitte Feuer im Kamin. Es ist etwas kalt für dich hier. Und dann komm wieder zu mir."
Gewissenhaft kniete sich Nuri vor den Kamin und entzündete mit etwas Mühe das Feuer.
Einen Moment lang genoss sie die Wärme des prasselnden Feuers, bevor sie zu Leon zurück kehrte.
Grinsend reichte der Prinz ihr das Buch. Mit einem Strahlen nahm das Mädchen das Buch entgegen. „Mä....Märchen, S...Sa...Sagen und Le...Legenden über Vam...Vampire und We...Werwölfe..."
Leon nickte zufrieden. „Sehr gut. Du wirst immer besser Nuri."
„Danke, Hoheit." Das Mädchen lächelte.
„Setz dich vor den Kamin und dann kannst du lesen."
Nuri nickte eifrig und trat erneut vor den Kamin. Sie wollte gerade das Buch aufschlagen, als Leon sie aufhielt.
„Ach...und Nuri? Du hast dieses Buch nie gesehen. Ich bezweifle, dass es mein Vater gut heißen würde, wenn du Geschichten über Werwölfe liest. Ich halte es allerdings durchaus für sinnvoll, bei dem was bald passieren wird."

Die Julius Chroniken - Teil 1: Die ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt