11.

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Der Morgennebel lag schwer über der Lichtung und tauchte alles in ein seltsames, fast schon mystisches Zwielicht. Die Sonne, die noch nicht einmal die Wipfel der Bäume erreicht hatte, konnte die Nebelschwaden nur schwer durchdringen. Statt dessen verstärkte sie die Mystik des Ortes und warf ihr sanftes Licht über das vom Tau noch feuchte Gras, ließ die Tropfen sacht aufleuchten.
Tia verharrte und lauschte, die Sinne geschärft, nach draußen, bevor sie die Ranken vor dem geheimen Höhleneingang zurück schlug und hinaus auf die Lichtung trat.
Sofort spürte sie, wie die Feuchtigkeit ihre Kleidung durchdrang und langsam nach oben stieg.
Langsam trat sie vom Fels weg und weiter auf die Lichtung.

Es war noch früh und die anderen schliefen noch. Selbst Joran schlummerte noch selig auf seiner Decke am Rand der Höhle. Doch für das, was sie jetzt vorhatte, konnte sie seine Gesellschaft ohnehin nicht gebrauchen. Bei dem, was sie im Begriff war zu tun, wollte sie lieber alleine sein.
Mit ruhigen, festen Schritten überquerte sie die Lichtung und ging auf den gegenüber liegenden Waldrand zu.
Gleich würde sich ihr erneut einer der Krieger in den Weg stellen, die rund um das Lager herum Patrouille liefen.
Doch heute bereitete ihr das kein Problem.

Noch in der Nacht hatte ihr Vater alle in der Höhle zusammen gerufen, um sie über die bevorstehenden Pläne zu informieren und so wussten alle, dass die Tage hier auf dieser Lichtung und in dieser Höhle dem Ende zugingen.
Tia wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb. Yagon hatte sich noch am Abend von ihr verabschiedet. Daher wusste sie, dass es nur Tage sein konnten, bis ihr Rudel das Lager hier abbrechen würde.
Ein letztes Mal wollte sie daher noch diesen einen Ort aufsuchen, der ihr so viel Ruhe und zugleich soviel Trauer bescheren konnte.
Und dieses Mal hatte sie ihren Vater, den Alpha, sogar um seine Erlaubnis gebeten. Sie wusste, dass er ihr diesen Wunsch nicht abschlagen würde.


Zielstrebig betrat die junge Frau den Wald und blieb sogleich lächelnd stehen, als ein hellbrauner Wolf auf sie zutrat und sie prüfend ansah.
‚Ein Monat noch', dachte Tia. ‚Ein Monat und sie wäre endlich auch dazu in der Lage, sich über den Mindlink mit ihrem Rudel zu verständigen.' Doch noch war das nicht möglich. Noch musste sie auf die herkömmliche Weise mit den Anderen kommunizieren.
„Guten Morgen, Giso." begrüßte sie den Wandler.
„Mein Vater weiß Bescheid und hat mir erlaubt zur heiligen Stätte zu gehen...", beantwortete sie die stumm ausgesprochene Frage.
„Du kannst mich aber gerne begleiten, wenn du dich dann wohler fühlst", fügte sie mit einem müden Lächeln hinzu.
Der Wolf vor ihr streckte den Oberkörper nach hinten und beugte sich leicht nach unten.
Tia schmunzelte. „Na dann komm..."

Während die junge Frau tiefer in den Wald hinein schritt, ging der Wolf neben ihr her.
Er war nicht viel älter als sie. Erst seit ein paar Monden war er ein aktiver Krieger und als solcher mit für den Schutz des Dorfes verantwortlich.
Schweigend gingen die beiden tiefer in den Wald hinein, bis sich wenige Minuten später eine dichte Blätterwand vor Tia und Giso auftat.
Die junge Frau trat mittig vor die Wand aus Efeu und schlug ihre Kapuze zurück.
Sofort fiel ihr Haar lang und geschmeidig über ihren Rücken. Ein einzelner Sonnenstrahl verfing sich in dem fast weißen Haar und brachte es zum Strahlen.
Der Wolf an ihrer Seite hob den Kopf und stieß ein lautes Heulen aus, als das Haar seiner Begleitung wie der volle Mond leuchtete.

Tia lachte leise, doch das Lachen erreichte nicht ihre Augen. „Werde ich in einem Monat auch alles anheulen, was nur entfernt wie der Mond aussieht?"
Verlegen strich sich der Wolf mit der Pfote über die Schnauze und sah das Mädchen an seiner Seite an.
Erneut lächelte Tia traurig und strich dem Wolf über den Kopf. „Danke, Giso, dass du mich begleitet hast, aber ab hier möchte ich alleine gehen. Du kannst jedoch gerne hier auf mich warten."

Sie wandte sich wieder der Wand aus Efeu zu, als sie ein Knacken hinter sich hörte.
Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was dieses Geräusch verursacht hatte.
„Ich warte hier auf dich, Tia." erklang die ruhige und ernste Stimme ihres Begleiters hinter ihr.
Erst jetzt drehte Tia sich zu dem nackten Mann um. „Ich danke dir Giso."
Der Mann nickte nur. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Wer weiß, wann..." Er zögerte, sprach dann jedoch nicht weiter. Statt dessen nickte er der jungen Frau zu. „Geh jetzt. Ich passe hier auf, dass du ungestört bist."
Erneut erklang ein Knacksen, als sich der Mann zurück in seinen Wolf wandelte und sich am Stamm eines Baumes zusammen rollte.
Tia atmete tief durch, schlug den Efeu zur Seite und trat durch den schmalen Durchgang.


Dahinter tat sich eine kleine Lichtung auf, die jedoch gänzlich im Schatten lag.
Große Bäume hatten ihre Äste über die Lichtung gestreckt und so ein dichtes Dach gebildet.
Mit sichtlich Trauer in den Augen blickte Tia sich um.
Direkt vor ihr lagen mehrere frisch aufgeschüttete Erdhügel – die Gräber der Opfer der letzten Schlacht.
Respektvoll beugte sich die junge Frau nach unten und legte auf jeden der Erdhügel einen kleinen, farbigen Stein aus einem bereit stehenden Korb.
Erst, als die Sonne bereits so hoch stand, dass sie ihre Strahlen durch das Blätterdach warf, erhob sich Tia wieder und schritt auf eines der älteren Gräber zu.
Kein Erdhügel war dort mehr zu finden, doch dafür eine Vielzahl an kleinen, bunten Kieseln, die ein fantasievolles, regelmäßiges Muster bildeten.
An einer Stelle war eine steinerne Tafel in die Erde eingelassen, auf dem Name und Todestag des hier begrabenen Wandlers stand.
Eine einzelne Träne suchte sich ihren Weg und rann langsam über Tias Wange hinab.

Ärgerlich wischte die junge Fraue die Träne mit ihrem Ärmel weg. Zu viele Tränen hatte sie schon vergossen. Doch kaum, dass sie neben dem alten Grab auf die Knie gegangen war, begannen die Tränen richtig zu fließen.
„Ach Mutter...", klagte Tia leise. „Vielleicht ist es heute das letzte Mal, dass ich dich hier besuchen kann. Wir müssen fort von hier. Die Vampire haben unser Dorf entdeckt. Es ist nicht mehr sicher..."
Das Mädchen verlagerte ihr Gewicht etwas, bis sie mit angezogenen Knien neben dem Grab ihrer Mutter saß. Zehn Jahre war es jetzt bereits her, dass sie gemeinsam mit den Anderen des Rudels ihre Mutter hier beerdigt hatte. Auch diese war ein Opfer des Krieges geworden und hatte Tia im zarten Alter von nur fünf Jahren zur Halbwaise gemacht.
Tia schniefte laut hörbar und hob den Kopf, als der Wind durch die Äste über ihr fuhr und die Blätter tanzen ließ.

„Ich weiß, Mutter. Ich muss nicht hierher kommen, um dir Nahe zu sein. Du wirst immer bei mir sein – egal, wo ich bin. Und doch fühle ich mich dir hier immer besonders nah."
Mit einem traurigen Lächeln erhob sie sich. Aus ihrer Tasche holte sie einen kleinen, transparenten Stein, in dem sich die schwachen Strahlen der Sonne fingen und tausende kleiner Regenbögen in die Luft zauberten.
Tia legte den neuen Stein in die Mitte des Musters und strich sanft über die beschriftete Steinplatte.
„Ich werde versuchen, irgendwann noch einmal hierher zu kommen, Mutter. Das verspreche ich dir."
Die junge Frau stand auf und wischte sich ein weiteres Mal mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.


Damals, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sich das ganze Rudel um sie gekümmert. Doch bald schon war Tia alles zu viel geworden. Die vielen Beteuerungen, dass man genau wisse, wie es ihr ging, die mitleidigen Blicke, wenn die Anderen dachten, dass sie es gerade nicht merken würde,...Die Rudelmitglieder hatten alles für sie getan – und egal, was sie getan hatte: das Rudel hatte sich stets nachsichtig mit ihr gezeigt. Das ging soweit, dass Tia bewusst Regeln gebrochen hatte, sich gezielt Anweisungen widersetzt hatte – nur, um irgendeine Reaktion zu erhalten. Doch es war vergebens. Immer hieß es nur: ,Das Kind hat es nicht leicht, so ohne Mutter aufwachsen zu müssen.' Und je mehr sie ihre Trauer offen gezeigt hatte, desto schlimmer wurde es, desto mehr wurde Tia regelrecht bemuttert.
Schnell hatte das Mädchen damals gelernt, ihre Gefühle, ihre Sorgen und Ängste, in sich zu verschließen. Doch hier, an diesem Ort, erlaubte es Tia sich, sich ihrer Trauer, aber manchmal auch ihrer Wut, hinzugeben. Nur wenige wussten um ihr Geheimnis. Und keiner ihrer engen Freunde würde sie je verraten.
Nach einem letzten Blick auf das Grab, straffte sich Tia und schritt auf die Blätterwand zu.
Ein letztes Mal atmete sie tief durch, dann verließ sie die Ruhestätte der Verstorbenen.


Die Julius Chroniken - Teil 1: Die ProphezeiungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt