● hassende trauer ●

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Ich stelle das halbvolle Glas ab und greife mir mühselig an meine Schläfen, ehe ich sie vorsichtig massiere; so, als würden sie jeden Moment in klitzekleine Teile zerbrechen. Meine Kopfschmerzen sind unerträglich. Ich würde ja damit aufhören mich tagtäglich vollaufen zu lassen, aber der Alkohol ist momentan mein einziger Lichtblick. Du hast mich verletzt. Die schlechten Zeiten mit dir überwiegen den positiven und so langsam fange ich an, unsere ganze Beziehung zu überdenken. Meine Gedanken drehen sich schon lange nur noch um dich. Getrennt sind wir schon länger, aber dieser Unfall geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich gebe dir die Schuld für alles, obwohl ich weiß, dass ich genauso dafür verantwortlich bin. Ich möchte dir verzeihen können und dich ruhen lassen können, aber ich bekomme es nicht auf die Reihe. Irgendetwas in mir hat noch nicht mit dir abgeschlossen, aber ich finde nicht heraus was. Du hast mir unglaublich wehgetan; wir haben uns gegenseitig wehgetan. Unsere Leben vollkommen zerstört. Und das nach der Trennung. Ich habe jedes noch so schöne Detail in meinem Kopf auseinander genommen und zerfetzt. Habe alles durchdacht und verstehe immer noch nicht, wie das alles passieren konnte. Wir haben uns geliebt und jetzt hasse ich dich. Ich weiß nicht, ob du mich auch hasst, obwohl es keinen Grund dafür geben sollte. Ich weiß aber auch nicht, ob du mich noch liebst, weil ich dich nicht fragen kann. Ich weiß nicht, wie es zu dieser Trennung kam, wenn wir doch so glücklich waren. Im Grunde genommen weiß ich überhaupt gar nichts; nur dass du nicht mehr an meiner Seite bist und dass ich jetzt irgendwie ohne dich klarkommen muss. Seufzend schlucke ich die letzten Tropfen des Destillates meine Kehle hinab und lehne mich an den kühlen Grabstein. Friedhöfe fand ich noch nie besonders schön, aber seitdem du hier liegst, finde ich sie noch abschreckender. Lächelnd schwelge ich in alten Erinnerungen. Wie wir uns eines Nachts hierher verirrten, um uns zu verabschieden.

,,Ich kann nicht glauben, dass sie nicht mehr bei mir ist."

,,Ich weiß, Liebste."

,,Sie wird mich nie wieder in die Arme schließen können oder mir nachts Geschichten vorlesen, so wie sie es früher immer gemacht hat. Ich werde sie nie wieder sehen. Dabei konnte ich mich nicht einmal verabschieden. Ich kann einfach nicht aufhören zu weinen. Ich will gar nicht mehr aufhören."

,,Komm her."

Etwas unbeholfen ziehe ich dich zu mir und lege meine Arme schützend um dich. Ich versuche dich zu beruhigen und dir klarzumachen, dass sie für immer in deinem Herzen und an deiner Seite verweilen wird, auch wenn du sie nicht sehen kannst. Ich habe selber keine Ahnung von diesen Dingen. Ich bin kein emotionaler Mensch und auch im Trösten bin ich nicht die Nummer eins, aber ich gebe mein Bestes, denn ich möchte dich nicht leiden sehen. Ich versuche dir all die Nähe zu geben, die du gerade brauchst und sage dir zum ersten Mal, dass ich dich liebe. Das scheint dich aufzuheitern. Ich sage es noch einmal. Sage, dass ich dich liebe. Geliebt habe ich zuvor noch nie, aber ich kann es spüren und ich will es dich wissen lassen. Du sagst, dass du es nicht erwidern kannst, weil deine Gedanken gerade an deiner Mutter hängen, aber du sagst auch, dass du es bald nachholen wirst. Bald, wenn du bereit dafür bist. Das macht mir nichts aus. Ich glaube dir, dass du dein Versprechen halten wirst. Ich glaube dir, dass du mich niemals alleine lassen wirst.

Dass ich mein zweites glückliches Weihnachtsfest ohne dich feiern werde, trifft mich hart. Ich habe fest daran geglaubt, dass wir mit achtzig noch Kekse backen und Geschenke öffnen werden, während sich unsere Urenkel daneben mit Mehl bewerfen. Wie so oft habe ich mich getäuscht. Weißt du, ich hasse nicht dich. Ich hasse es, dass du mich verlassen hast. Auf beide Arten. Ich hasse unsere Trennung. Aber vielleicht war es besser so. Ich weiß nicht wie es dir in der Zeit nach der Trennung ging, aber wenn du glücklich warst, dann möchte ich versuchen auch wieder glücklich zu werden. Viel mehr hasse ich es, dass ich meine Gedanken einem kalten, mit Schnee bedeckten Stein anvertraue. Ich hoffe wirklich, dass du mich hören kannst. Irgendwo da draußen bist du. Das weiß ich. Wenn du mich noch liebst, dann lass es mich wissen. Gib mir ein Zeichen; irgendwas. Ich warte noch lange darauf, dass du dich bemerkbar machst, aber irgendwann gebe ich auf. Vielleicht hast du mich dort oben vergessen. Vielleicht bist du bei deiner Mutter. Vielleicht sehen wir uns wieder. Langsam hole ich ein Feuerzeug aus meiner Jackentasche und entzünde eine kleine Kerze. Du hast Kerzen geliebt, erinnere ich mich. Ich bücke mich nach unten und stecke sie fest in den samtigen Schnee. Ich verbschiede mich, obwohl ich weiß, dass ich morgen wieder hier sein werde. Ich verabschiede mich, damit ich mir wenigstens einbilden kann, dass ich damit beginne, dich loszulassen. Ich verabschiede mich, um mich zu verabschieden.

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weihnachtsträumerinWhere stories live. Discover now