𝙑 | In der Falle

24 5 1
                                    

Die Kanonenkugel war der Halbghul. Er flog auf die Wendeltreppe und schickte ein so heftiges Siegesgebrüll durch den Saal, dass die Gemälde an den Wänden schaukelten. Er hatte blutende Wunden von seiner Ganzkörperaktion am Fenster, aber das tangierte ihn vermutlich wenig. Die Tentakel wedelten über seinen Rücken wie eine Seeanemone in der Strömung.

Victoria kroch aus Reflex unter den Billardtisch, aber sie wusste, dass der Ghul sie bereits bemerkt hatte. Eine Fontäne aus Angst verbrühte ihr Innerstes.
„Ich bin zu jung für meine letzten Worte", krächzte Jeffrey.
Moore sprang auf und schnappte sich den Billardstock. Maris spurtete zu ihnen. „In den Keller mit euch beiden, wir klären das!", kommandierte er. Mit einem Ruck löste Victoria sich aus ihrer Schockstarre und half Arthur, das auch zu tun- und Moore wirkte erfreut, dass Maris von „wir" gesprochen hatte.

Der Ghul vollführte ein Salto auf die grüne Fläche des Billardtischs. Die Kugeln hüpften auseinander, als fürchteten selbst sie ihn. Moore schlug mit seinem Stock nach dem Ghul, aber der schützte seinen Kopf diesmal besser. Mit einem Fangarm wehrte er die provisorische Waffe ab und wollte sich auf den Vampir stürzen, als Maris hinzukam. Ein zweites Messer hatte er nicht parat, aber das war nicht das Einzige in seiner Trickkiste. Als der Ghul sich unter einem Schlag wegduckte, segelte er auf dessen Rücken und nahm das Ungetüm in den Schwitzkasten.

Trotz der Angst, die sie zittern ließ wie ein neugeborenes Karnickel, musste Victoria sich zum Weiterlaufen aufraffen. So etwas Kurioses sah man nicht in jeder Pension. Der Ghul bockte wie ein Pferd und rupfte mit seinen Tentakeln an Maris, was den Würgegriff lediglich verschlimmerte. Der Senator flappte auf dem klobigen Rücken umher und blieb sogar taff, als sich der Ghul über den Boden rollte, um ihn loszuwerden. Victoria bemerkte, dass das Monster zwar äußerst stark war, aber aufgrund seiner gedrungenen Statur nicht wendig. Moore verdrosch den in die Enge getriebenen Feind mit seinem Billardstock, wann immer er die Gelegenheit dazu hatte.
Spät fiel dem Ghul ein, dass er Scherenhände besaß. Maris glitt vom Rücken des Wesens ab, bevor er zum Köftespieß verarbeitet werden konnte. Noch im selben Augenblick hatte er sich mit dem zweiten Billardstock bewaffnet und landete einen Volltreffer auf die Fratze seines Gegners, der sich erst sammeln musste. Während die Erwachsenen den um sich beißenden Ghul mit Hieben traktierten, waren Arthur und Victoria bei der Kellertür angelangt. Eine von Rissen verzierte Treppe führte in den finsteren Untergrund. Doch Victoria weigerte sich, ohne die Vampire hineinzugehen.

Diesen gönnte der Ghul keine Pause. Sie waren ein Gemetzel aus Reißzähnen und Fauchen, Victorias Augen wurden feucht vom Gestank des Höllenmonsters. Den meisten Hieben konnten die Vampire ausweichen, weil sie sehr flink waren. Lediglich ein Mal sah Victoria Moore über den Boden schlittern, doch er gab nicht klein bei und hatte beim nächsten Blinzeln wieder den Billardstock in der Hand. Der Ghul versuchte, sich zu Victoria und Arthur zu befördern, aber ihre Verteidiger stocherten nach ihm, sodass er nicht abspringen konnte. Die Kämpfer waren sich ebenbürtig, keiner konnte besiegt werden und keiner konnte gewinnen.
„Wir müssen etwas tun, sonst nimmt das nie ein Ende!", sagte Victoria an ihren besten Freund gewandt und war froh darüber, dass die Vampire ihnen kein altruistisches „Geht ohne uns!" zuriefen.
„Und ich weiß auch schon, was", erwiderte Arthur.

Victoria rannte ihm hinterher. Aus dem Augenwinkel registrierte sie, dass Maris ihr Vorhaben kritisch beäugte, doch er war zu beschäftigt für eine Beschwerde. Arthur bremste vor einem Metalltischchen, auf dem ein Set Raumduft platziert war. Das versprühte also den künstlichen Blumengeruch im Raum. Als er die Duftstäbchen entfernte und das Glas mit der aromatischen Flüssigkeit hochhielt, dämmerte es Victoria.
„So ein Raubtier hat bestimmt ein empfindliches Näschen, was?", sagte sie und ein verschmitztes Grinsen schlich sich auf Arthurs sommersprossiges Gesicht.

Gemeinsam rauschten sie auf das Kampfgeschehen zu. Glasscherben knackten unter Victorias Sandalen, ihre Knie wurden zu Butter. Je mehr sie auf den wulstigen Gestaltwandler zu rannte, desto bescheuerter kam ihr der Plan vor. Sie waren einzig mit einem Schluck synthetischer Flüssigkeit bewaffnet und er eine Bestie, die sie mit jedem Körperteil töten könnte. Wohin würde der Ghul sie verschleppen, wenn er sie in seinen Fängen hatte? Könnte sich wenigstens Arthur retten, wenn es schief ging? Victorias Adrenalinspiegel ließ sie schwindeln, doch an einen Rückzug war nicht mehr zu denken.
„Was habe ich über meine letzten Worte gesagt?", quiekte Jeffrey und versteifte sich in ihrem Nacken. Manchmal tat es Victoria leid, dass er so treu war.

HIMMELSPFORTENWhere stories live. Discover now