𝙑 | Verloren in der Geschichte

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In den Sommerferien konnte man sich mit allerlei Sachen die Zeit vertreiben. Zehn Wochen dauerten sie in Missouri, und der Pfortenkonflikt hatte das auf unbestimmte Zahl verlängert. Damals in St. Louis hatte Victoria Binge-Watching von Serien oder Naturdokumentationen betrieben, gelesen, kochen gelernt, war mit Jeffrey draußen herumgeturnt und hatte fotografiert oder sie war mit ihren wenigen Freunden in der Stadt Eis essen gegangen. Gelegentlich hatte sie William auf Arbeit ausgeholfen, Geld für Urlaub im Ausland war nicht da gewesen. Aber dafür hatte Victoria jedes Mal einen neuen Winkel der Stadt und ihres Lebens erkundet. Man konnte sich in den Ferien Herzensprojekten widmen, neue Hobbies finden und die Seele baumeln lassen. Gestern war auch ein spezieller Besuch in der Residenz der Höllenkönigin darunter gewesen. Die Liste an potenziellen Aktivitäten war meterlang.
Sich von einem Vampir mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf die Fresse legen zu lassen, stand für Victoria eigentlich nicht darauf.

Japsend versuchte sie, auf die Beine zu kommen. Ihr Brustkorb schmerzte, als hätte man den Panzer einer Galapagos-Schildkröte dagegen geschmettert, und ihre Glieder waren so beweglich wie eingegipste Stahlrohre. Als Victoria zum ersten Mal durch das helle Foyer des Runentaler Rathauses gelaufen war, hätte sie nicht damit gerechnet, dass sie sich irgendwann wie ein gestrandeter Wal auf dem Parkett wälzen würde, aber hier fand sie sich nun wieder: Unter einem kläglichen Schmerzensschrei und wie eine Idiotin in Maris' Finte gelaufen.
Victoria wollte ihre Gedanken sortieren und aufstehen, wie sie es gelernt hatte, doch schon berührte Maris' Zepter sie am Hals. Kühl fuhr die Erkenntnis der Niederlage in ihre Haut, wo sie auf Protest stieß- denn es war mindestens die zehnte. Normalerweise war Victoria schnell gut in neuen Lektionen, aber hier wollte ihr Ehrgeiz einfach nicht reichen.

Wie ein Säugling drehte sie sich ächzend auf den Rücken. Ein mitleidiges Lächeln, das Maris' Eckzähne entblößte, schien zu ihr herunter.
,,Schachmatt", sagte der Senatsvorsitzende und schlug mit seinem dunklen Zepter krachend auf den Boden. Der Klunker in dessen Mitte erstrahlte wie ein sich spaltender Stern. Inzwischen hatte Victoria erfahren, dass er weit mehr als ein Statussymbol war und dem Wächter-Clan gehörte, in welchem Maris, Mykai und Mevoron arbeiteten. Wie so oft durchflutete die Magie des Zepters das Foyer und eine unsichtbare Macht hob Victoria auf die Füße und blies ihre Schmerzen hinfort. Was anfangs das reinste Spektakel gewesen war, nervte Victoria jetzt, da der magische Neustart des Zepters ihr eins unter die Nase rieb: Ihr erneutes Versagen.

Sie seufzte. ,,Ich bin auf deine Finte reingefallen, richtig?"
Maris legte eine Hand auf ihre Schulter. Er trug passend zur Trainingseinheit ein Sport-Top, das seine athletische Figur betonte. Manchmal musste Victoria sich ermahnen, nicht die Schnitt- und Stichnarben auf seinen Armen anzustarren. Heute zogen seine anleitenden Worte Victorias Aufmerksamkeit auf sich: ,,Du bist bereits wendiger, vorausschauender und mutiger als am Anfang der Woche. Ihr werdet besser. Geduld und Ausdauer sind die Schlüssel".
,,Ich muss zugeben", warf Moore ein, der auf der Treppe saß, ,,du hättest sie nicht ganz so fest schlagen müssen".

,,Nun, das ist meine Aufgabe", erwiderte Maris gekünstelt hochnäsig. Seine monströse Stimme machte den Satz dennoch unheimlich.
,,Und meine Aufgabe ist es, das Kampftraining zu revidieren", erwiderte Moore gelassen und schlug die Beine übereinander. ,,Soll ich etwa still bleiben, wenn du meine Schützlinge wieder und wieder auf den Boden schickst? Was wäre ich für ein Mentor?"
,,Du könntest es auch probieren", sagte Maris mit einem Grinsen.
Moore verzog das Gesicht. ,,Ich verzichte".
,,Irgendwann wird's zum Bedürfnis", kommentierte Estelle, die mit Gwen und Arthur bei den Tischen saß. Letzterer war etliche Male in Victorias Position gewesen: Schwitzend und verärgert, von Schmerzen durchzuckt, vom Zepter wieder auf die Beine gebracht.

Die vergangene Woche war die körperlich anstrengendste gewesen, welche Victoria je gehabt hatte. Ab und zu gab es noch kleinere Lektionen in theoretischen Grundlagen, weshalb Victoria mittlerweile so viele Drachenarten kannte wie Hunde- und Katzenrassen zusammen, also allerhand. Sie hatte sich eingeprägt, wie man die Fabelwesen pflegte, welche Eigenschaften sie hatten und wie sie sich an ihren Lebensraum anpassten. Doch die Regierung hielt es auch für wichtig, dass ihre Artefakt-Aufspürer sich wehren konnten, wenn diese Spezies zum Feind wurden. Oftmals musste Victoria sich daran erinnern, wie viel sie bereits gelernt hatte, denn Frustration war kein seltener Begleiter. Vor allem, wenn es an die Praxis ging und Maris, Mykai oder Estelle den Stolz auf ihren Fortschritt ruinierten, den Victoria eben noch gehabt hatte.

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