𝙑 | Schachfiguren

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,,Lass uns ausbrechen" war nicht die vorsichtigste Lösung für ihr Problem, aber die einzig erträgliche. Victoria hielt es in ihrem harten Wandbett nicht mehr aus, das sich bei jedem Wimpernschlag schnarrend beschwerte. Das Gästezimmer hatte zwei von der Sorte, darüber hingen Regale mit Topfpflanzen. Victoria hatte sich schon um die fünfmal daran gestoßen, wenn sie durch ihren Drang zu handeln aufgehüpft war und Arthur sie wieder zur Ruhe zwingen musste. Es förderte ihre Ruhe aber nicht, dass das zwanzig Zentimeter große, schuppige Tier, welches sich wie versteinert zwischen den Topfpflanzen versteckte, ständig mit nicht gerade druckreifen Wortkreationen um sich warf. Hätte Arthur sie hören können, hätte er nicht schlecht gestaunt.

Durch das runde Fenster, welches ihr Schlafzimmer spickte, funkelte die Nacht hinein. Sie waren beide erschöpft und konnten dennoch nicht einschlafen. William ging es in seinem Zimmer bestimmt genauso. Es war durch ein kleines Bad mit dem ihrem verbunden, aber abgeschlossen. Mykai hatte sie nach einem Rundgang durch das Rathaus den Räumen zugewiesen. Am folgenden Morgen würde man „ihnen alles erklären". Die Magierin war abgezogen, um auf Williams Bitte hin dem Familienkreis der Kanyes auszurichten, dass ihr Kind mit dessen Freundin und deren Vater in Gewahrsam war.

Victoria mochte nicht an die Gesichter denken, welche es geben würde, wenn eine Himmelsmagierin mit ihrem dreiäugigen Drachen so vor der Haustür aufkreuzte: „Beste Grüße, ich habe euren Sohn gekidnappt und darf euch wahrscheinlich nicht sagen, wann ich ihn zurückbringen werde. Bedauerlicherweise kann das FBI absolut nichts gegen uns ausrichten. Wir bitten um Ihr Verständnis".
Arthur hatte bereits versucht, seine Mutter telefonisch zu erreichen, aber in dieser Welt gab es keinen Empfang. Victoria selbst hatte niemanden außer ihren Dad. Dessen einziger Bruder lebte in einem Pflegeheim in Houston und war dement. Aber um Arthur scharten sich in Hermann stiefväterlicherseits eine Menge Leute. Seiner Stiefgroßmutter, zu der sie hätten fahren sollen, musste angst und bange um ihren Verbleib sein.

Dieses Mal konnte Victoria nichts und niemand bändigen. Sie federte sich aus ihrem Bett heraus und achtete darauf, nicht gegen das Regal zu knallen, das man wirklich etwas weiter oben in die Wand hätte nageln können. „Ich mache kein Auge zu, bevor ich nicht weiß, was hier los ist. Also lass uns auf Erkundungstour gehen".
Arthur sah aus, als hätte er zwei Nächte am Stück vor seiner Spielkonsole zugebracht, was sie ihm im Übrigen zutraute. Er saß im Schneidersitz auf seiner Matratze und knetete die Hände. „Wo sollen wir schon hin? Wenn unsere Gastgeber uns abfangen, wird das mies werden".
„Ich meinte auch nicht, dass wir raus in die Wildnis fliehen sollen. So gut kenne ich mich dann doch nicht aus, dass ich uns dort bis in alle Ewigkeit durchfüttern könnte. Ich würde hier gerne ein bisschen... herumstöbern, falls auf den Gängen keine Wachen sind. Nur ein Versuch. Vielleicht erfahren wir, worauf wir uns hier einlassen müssen".

Sie wusste, dass in Arthur durchaus ein risikobereiter, praktisch veranlagter Mensch steckte. Das Wort „erforschen" weckte seinen Geist. „Na gut", entgegnete er und gähnte ausgiebig. „Wenn es nur das ist. Vielleicht können wir ein Büro aufbrechen und Akten über eine geplante Zombieapokalypse finden oder so".
„Ich bemühe mich, ein Büro aufzubrechen und Akten über eine geplante Zombieapokalypse zu finden, damit es sich für dich lohnt".
„Aber wenn man uns ertappt, ist es deine Schuld".
„Alles meine, versprochen".

Als Arthur zur Tür ging und Victoria in seinem toten Winkel war, flitzte der geheime Mitbewohner von den eingetopften Pflanzen auf Victorias Kopf und dann auf ihre Schulter. Der raue Körper fühlte sich kühl in ihrem Nacken an. Er hatte längst die perfekte Position gefunden, in der Victorias offene Haare ihn verdeckten. Ohne ihren schuppigen Kumpel ging es auf kein Abenteuer.
Die Tür war- anders als die zu William- nicht verschlossen, das hatten sie durch das Herunterdrücken der Klinke schon getestet. Vielleicht sollte diese vermeintliche Freiheit das Vertrauen in ihre Entführer verstärken, was überhaupt keinen manipulativen Charakter hatte. Doch wer garantierte Arthur und Victoria, dass hinter der Tür kein Bewacher stand, der sie gleich wieder in ihre Bleibe schubsen würde?

HIMMELSPFORTENWhere stories live. Discover now