𝙑 | Die Maske, die wir alle tragen

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Das Kampftraining war vorbei und Victorias Energie für körperliche Betätigung futsch. Als sie nach einer kalten Dusche vom Brunnen zu ihrem Zimmer lief, Jeffrey sich draußen sonnte und Arthur noch seine Übung absolvierte, hörte sie die Musik schon auf der Treppe. Es waren feine, traurige Gitarrengesänge, die das Rathaus verzauberten. Die Töne waren lang und leidenschaftlich, als würde der Gitarrist jeden Atemzug mit seiner Musik verpaaren, und sie klagten von einem so tiefen Schmerz, dass es Victoria wie von Geisterhand dorthin zog.

Sie kam vor Moores Zimmer zum Stehen, eine Tür trennte sie von dem Vampir und seiner Einlage. Er teilte sein Reich mit Maris, Victoria hatte es bisher selten betreten. Sanft wippten ihre Füße zur Melodie. Sie konnte selbst kein Instrument spielen, aber Klavier- oder Gitarrenklänge lockten sie an wie Sirenen. Die Töne zerstreuten sich in der Luft und verwandelten den Korridor in eine viktorianische Bibliothek, eine Kirche bei Nacht oder den Schauplatz eines tragischen Geschehens; sie bekamen Flügel und keine Tür konnte sie aufhalten.

Victoria klopfte leise an und betrat den Raum. Moore nahm mit einem Nicken Notiz von ihr und sie ließ sich gegenüber von ihm auf dem Bett nieder. Seinen Zylinder hatte er abgesetzt, sodass Moores Haare, die schwarz wie Kümmel waren, seine Stirn kitzelten. Er hatte sich im Schneidersitz auf seiner Matratze platziert, im Schoß hielt er die Gitarre, konzentriert war er darüber geneigt und hatte die Augen halb geschlossen. Seine ranken Finger hüpften über die Saiten und erschufen die nächsten Wendungen seiner wortlosen Tragödie. Erst nach einigen Minuten verstummte das Stück in einem finalen Riff.

Moores Unterkunft schien eine sehr persönliche zu sein. Im Grundriss war es das spartanische Stübchen, das Victoria und Arthur auch zuteilwurde, aber er hatte seine Seite des Zimmers so ausgeschmückt, dass sie kaum wiederzuerkennen war. Sein Bettlaken bildete eine Motte in einem Spinnennetz ab. Auf Moores Beistelltisch stapelten sich Bücher mit Lesezeichen, die meist nicht die Hälfte überschritten, und eine dekorative Skeletthand, auf die er seine Ringe aufgesteckt hatte. Hinter seinem Bett standen ein hölzerner Gitarrenständer und eine Halterung mit Liederbuch, doch er hatte kein einziges Mal darauf geblickt. Es war frei gespielt gewesen.
Moore blickte Victoria an. „Hat es dir gefallen?"
„Es klang wundervoll".
Seine fast zwei Meter hohe Gestalt war über der Gitarre gekrümmt. „Ich war in Gedanken versunken. Musik ist für mich da, wenn ich die Maske abnehme, die wir alle tragen".

„Für mich auch". Victorias Hände fuhren über die weiche Bettwäsche, auf der sie saß. Sie schaute die Regale über sich an, die mit Chokern und samtenen, tücherartigen Kleidern gefüllt waren. Geordneter als die von Moore, aber im Kern nicht allzu unterschiedlich.
Der Vampir schnappte ihre Gedanken wohl auf, ohne dass er ein Seher sein musste. „Ich habe über Maris' Fluch nachgedacht", sagte er und stülpte sich seinen Zylinder über. „Normalerweise hört man das nicht im gesamten Rathaus, doch gerade war mir danach. Er weiß sowieso, wie es mir geht".
„Wie soll es einem damit auch gehen? Es ist einfach unfair. Könnten wir nur den Verlorenen Paragraph finden...", sagte Victoria mit einem Ziehen in der Brust.
„Ich sollte dich damit nicht zusätzlich belasten. Immerhin bin ich dein Mentor und nicht du meiner".
„Aber du bist auch mein Freund. Und wenn du jeden Tag zuhörst, wie es uns geht, kann ich dasselbe mal für dich tun".

Moores blutroter Blick traf ihren. „Weißt du, warum ich Maris so bewunderte?", fragte er.
„Wieso?"
„Weil er mir ähnlich war. Er ist nicht der Einzige, der in seiner gesamten Kindheit und Jugend nicht hineingepasst hat. Auch ich hörte heimlich Rockmusik und konnte diesen überstrengen Glauben nicht leiden". Ein Schmunzeln huschte über Moores blasses Gesicht, wie ein Schatten über eine Marmorwand. „Deshalb waren wir gute Bekannte, auch wenn er sich leider nicht auf eine engere Freundschaft eingelassen hat. Der Unterschied zwischen uns war, dass Maris sich bemerkbar machte. Ich hatte das Gefühl, dass er aussprach- nein, dass er verkörperte, was ich selbst dachte, doch wozu ich mich nicht traute".

HIMMELSPFORTENWhere stories live. Discover now