22.

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Es gab Tage, die ich verabscheute.
Leider galt mein Geburtstag dazu. Er kam immer wieder am gleichen Tag: der 5. November.
Ich hasste diesen Tag. Das klang jetzt total wie ein selbstgefälliges Mädchen, aber ich mochte diesen Tag wirklich nicht.
Nicht nur, weil ich Geburtstag hatte, sondern weil ich dieses Jahr achtzehn wurde.
Achtzehn. Ich konnte es kaum glauben. Zoe und Ich hatten früher Pläne gemacht, wie wir an unserem 18. Geburtstag feiern würden und gerade deshalb freute ich mich nicht auf diesen Tag.

Insgeheim musste ich trotzdem lächeln, als mein Vater mir ein Geburtstagslied vorsang, als ich noch im Bett lag.
Meine Mutter schlich sich unbemerkt in mein Zimmer und stellte zwei Geschenke auf meinen Tisch.
Meine Mutter lebte jetzt schon einige Wochen bei uns und ich konnte mich trotzdem noch nicht daran gewöhnen. Ihr schien das ähnlich zu gehen, aber wenn ich sie ansah, setzte sie sie nur ein bemühtes Lächeln auf. Ich wusste, dass sie es versuchte. Und ich wusste auch, dass sie im Café arbeitete. Sie wollte eine gute Mutter sein, auch wenn es dafür zu spät war. Trotzdem konnte ich einfach nicht anders: Ich liebte sie. Ich liebte sie, weil sie trotzdem noch meine Mutter war. Weil sie mich trotzdem aufgezogen hat. Weil ich, wenn sie mich anlächelte, trotzdem meine liebenswerte Mutter von früher sah. Und jetzt, wo sie mit perfekten, gewellten Haaren vor mir hockte und mich nach Erlaubnis bat, umarmte sie mich fest und ich begann zu weinen.

„Shh", murmelte meine Mutter und strich sanft über meinen Kopf.
Ich habe sie vermisst.
„Weine nicht, Liebes. Du hast Geburtstag", fügte sie hinzu und ließ mich los. Mein Vater lächelte mich an und diesmal lag dort kein trauriges Glitzern in seinem Blick. Er zog mich aus dem Bett und führte mich hinaus in den Flur. 
Gleich würde mir einiges vorgesetzt werden:
Kerzen, Geschenke, Kuchen, Partyhüte...
Und diesmal freute ich mich. Zum ersten Mal war ich dankbar, dass meine Eltern das hier für mich taten. Mein Bauch kribbelte und das Geburtstagsgefühl, was ich sonst nie bekommen hatte, kam jetzt doch noch.

Später umarmten mich Taylor und Stanley, die mich in der Schule begrüßten. Stanley war etwas weiß im Gesicht und als er mich in eine schnelle Umarmung zog, schien er verlegen. „Es tut mir leid wegen letztens. Ich hätte dich nicht zum trinken drängen sollen." „Bin schon darüber hinweg", sagte ich fröhlich, weil ich wusste, dass Adam hier irgendwo auf mich wartete und mich überraschte. Seine Stimme und das Funkeln in seinen Augen geisterten in meinem Gehirn herum und meine Wangen wurden rot. Als ob Taylor meine Gedanken gelesen hätte, seufzte sie und schüttelte mitleidig den Kopf. „Adam kommt nicht. Irgendwas ist wieder mit seinem Vater passiert..."
„Was?" Ich erschrak und blickte mich hektisch um. „Sollten wir gehen?"
Was war, wenn Adam wieder ins Krankenhaus musste? Was war, wenn es diesmal nicht nur ein blaues Auge war?
Was war... mit Adam??
Taylor schüttelte den Kopf. „Adam kriegt das schon geregelt. Du hast heute Geburtstag und solltest deinen Tag genießen", Bevor ich protestieren konnte, hakte sie sich bei mir ein und warf mir ein Grinsen zu. „Komm mit. Stanley und Ich haben eine Überraschung." Doch mein Kopf war bei Adam. Immer wieder musste ich an ihn und seine traurige Geschichte denken, die mich völlig umgehauen hat.
Wo war er jetzt?
Und vor allem:
Brauchte er meine Hilfe?

Mit dem Partyhut auf meinem Kopf, lief ich nach Hause. Das Hochgefühl war verschwunden. Einfach so. Es kam und ging, selbst das Geburtstagsgefühl war weg.  Ich dachte nur noch an Adam und ließ zu, dass die Sorge um ihn meinen Tag ruinierte. Obwohl Taylor den ganzen Tag total hilfsbereit und lieb gewesen war, schaffte ich es nach einer Weile nicht mehr zu lächeln. Mein Gesicht tat vor der Anstrengung so zu tun, schon weh und ich kämpfte mit aller Kraft gegen die Müdigkeit an, die mich auslaugte. Gedankenverloren kramte ich nach meinem Haustürschlüssel, als eine Schneeflocke auf meinen Haaren fiel.
Es schneite?  Überrascht drehte ich mich um und sah zum ersten Mal mein Umfeld genauer. Ich war so abgelenkt von meinen Gedanken gewesen, dass ich nicht das große Zelt in meinem Garten entdeckte. Und der kleine Stand, der Waffeln und Kakao zubereitete. „Judy!" Ich wirbelte herum und entdeckte einen kleinen Schneemann, hinter dem sich Adam versteckte. Er winkte breit und wild und mein Gesicht war so verblüfft, dass Adam zu mir kam und mich in seine Arme zog. „Was guckst du denn so bedröppelt?", gluckste er und da sah ich jetzt auch noch Stanley und Taylor, die sich breit grinsend ansahen.  „Aber dein Vater...", hob ich an und verstand die Welt nicht mehr.  „Ist nicht Zuhause", trällerte Adam und küsste mich sanft.
„Herzlichen Glückwunsch, Süße",  „Aber wie...?"  „Ich habe dich angelogen", klärte mich Taylor schuldbewusst auf und lächelte leicht. „Adam und deine Eltern haben all das hier getan, damit wir deinen Geburtstag etwas feiern konnten", 
„Während du in der Schule warst", fügte Stanley grinsend hinzu. Dann erst erkannte ich auch Trevors und Lukes Gestalten, die sich gerade einen Kakao holten. Trevor hob die Hand, als er mich erblickte und ich lächelte ihm zu, verstummte jedoch rasch, als Luke auf mich zukam. „Hey", Er winkte und umarmte mich einen Tick zu lange. „Herzlichen Glückwunsch", Er lächelte und reichte mir einen Kakao, der jetzt in meiner Hand dampfte.
„Wie geht es dir?", fragte ich ihn vorsichtig und erinnerte mich daran, wann ich ihn zuletzt gesehen habe.
„Besser", sagte er und nickte. „Einiges ist besser geworden." Das sah man ihn an, denn sein Lächeln wirkte strahlender ohne traurig zu wirken. Er sprach immer noch etwas beklommen und vorsichtig, jedoch wirkte seine fröhliche Fassade glaubwürdig.
„Ich ziehe um", platzte er hervor und diesmal lächelte er wehmütig.
„Was??" Mein Stimme klang verwirrt, ängstlich.
Warum sagte er das jetzt erst?
„In eine andere Stadt", erklärte er.
„Ein anderes Leben..."
Oh Luke. Ich berührte leicht seinen Arm, versuchte seinen Blick zu deuten.
„Es ist aber nicht wegen Zoe, oder?"
Er nickt. „Es ist wegen Zoe. Ich kann das einfach nicht mehr, Judy", murmelte er.
Mein Lächeln erstarb. „Wie... meinst du das?"
„Das hier. Diese Stadt, diese Straße. Alles erinnert mich an Zoe und daran, was ich verloren habe."
Meine Schultern sanken, ein Schmerz, der so heftig war, erlaubte mir nicht mehr zu atmen.
„Wie schaffst du das?", flüsterte Luke kaum hörbar.
„Wie schaffst du ohne Zoe zu leben?"
„Ich schaffe es nicht, Luke", antwortete ich.
„Der Schmerz wird immer da sein, er wird ein Teil von dir. Aber mir geht es besser, weil ich mich nicht mehr durch den Schmerz ablenken lasse."  „Gerade deswegen freue ich mich auf den Umzug", sagte Luke plötzlich optimistisch geworden.
„Ich werde bei meiner Schwester leben."
„Bei deiner Schwester?", fragte ich ungläubig.
„Und was wird aus deinen Eltern?"
„Sie werden mich besuchen kommen", sagte er und zuckte mit den Schultern.
„Meine Schwester lebt in einem kleinen Apartment und ist bereit mich aufzunehmen..", redete er weiter und ich hatte das Gefühl, als wollte er sich selbst davon überzeugen.
„Ich werde dich vermissen, Luke", flüsterte ich und meine Augen begannen zu brennen.
Ich umarmte ihn und löste mich eilig von ihm, denn Luke war mit seinem Redeschwall noch nicht fertig.
„Ich werde dich auch vermissen, Judy", sagte er heiser und räusperte sich.
„Es wird nicht für immer sein. Nur für eine Weile, damit ich wieder Zeit für mich finde."
Ich könnte hundertmal protestieren, aber ich tat es nicht, weil Luke mein Freund war.
Und Zoes Tod hatte ihn auseinander gerissen. Jetzt musste er wieder heilen und das mit der Zeit.
„Wann ziehst du um?", fragte ich stattdessen und seine Antwort schockierte mich:
„In einer Woche."
Ich schluckte und unterdrückte den Drang ihn anzuschreien.
„Und warum erzählst du mir das erst jetzt??"
„Wir sehen uns doch kaum, Judy", sagte er wahrheitsgemäß und mir wurde schmerzhaft bewusst, dass er recht hatte.
„Ich werde nächste Woche umziehen, aber ich werde dich trotzdem ab und zu anrufen",
Plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen und ein Kloß, der so groß war, dass ich ihn nicht einfach herunterschlucken konnte, bildete sich in meinem Hals. „Ich wünsche dir nur das Beste, Luke", hauchte ich und er nickte.
„Ich dir auch."  Wir schwiegen für eine Weile, bis er mir unbeholfen auf die Schulter klopfte.
„Heute ist dein Geburtstag. Du solltest nicht länger traurig sein."
Ich nickte und schluckte die Tränen mit aller Kraft herunter.
„Aber nicht..."
Jemand griff nach meiner Hand, zog mich zu sich und umarmte mich von hinten. Luke verschwand aus meinem Blickfeld.
„Trink deinen Kakao", wisperte Adam in mein Ohr und ich nahm einen kleinen Schluck.  „Eure Überraschung war echt fies", beschwerte ich mich und Adam schmollte. „Ich dachte, du freust dich."  Ich küsste ihn und grinste. „Und wie ich mich freue. Aber die Lüge war schon gemein."  „Ich weiß", Adam nickte.
„Aber es war nötig, damit wir alles organisieren können."
„Ich bin froh, dass es dir gut geht", sagte ich ehrlich und schmiegte mich an ihn.
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht und..."
„Shh." Adam drückte einen liebevollen Kuss auf meine Stirn.
„Vergiss deine Sorgen und lass uns tanzen", flüsterte er verschwörerisch und ich musste lachen.
Als das Lied „Glimpse of us"  über die Musikboxen ertönte, verstummte ich und Adam nahm meine Hände.
Während er mich zu Taylor und Stanley führte, die tanzten und dabei lachten, als wäre es das lustigste in der Welt, blickte ich Adam an und fühlte mich plötzlich komplett. Wie ein Teil von ihm.  Mit ihm zusammen zu sein, reichte für mich völlig aus und als ich jetzt in seine Augen blickte, fühlte ich es.  „Ist es okay, wenn ich heute länger bleibe?", raunte er mir ins Ohr und küsste mich zärtlich. Immer.  „Na klar",  Meine Stimme war nur ein einziger Hauch, als er erneut seine weichen Lippen auf meine drückte. „Wir schauen heute die Schöne und das Biest", flüsterte er und strich über meine Wange, verzauberte mich mit seinen Worten. „Auch genannt Judy und Adam." Ich lachte, zog ihn zu mir heran, um ihn küssen zu können und schloss dann die Augen, als wir tanzten.  „Das hier ist schön", murmelte ich immer noch mit geschlossenen Augen. „Du und Ich. Hier." Er nickte lächelnd und nach einer Weile holten wir uns einen Kakao, stießen miteinander an und tranken große Schlucke, obwohl ich mich dabei verbrannte.

Später als Taylor, Stanley, Trevor und Luke gegangen waren blieben nur noch Adam und Ich übrig. Als wir gerade in mein Zimmer gehen wollten, um den Filmabend zu beginnen, winkte mich Dad zu sich.
„Ich wünsche dir noch einen schönen restlichen Geburtstag, aber.." Er warf Adam einen misstrauischen Blick zu.
„Lasst die Tür offen, ja?" „Gott, Dad!" Gequält stöhnend schüttelte ich den Kopf und ging die Treppen hoch und sah meine Mutter, die an das Badezimmer verschwand.
„Wie lange ist deine Mutter jetzt schon zurück?", fragte mich Adam neugierig, als wir endlich im Zimmer waren.
„Ich weiß nicht", antwortete ich ehrlich und zuckte mit den Schultern. „Mehrere Wochen. Mehr als einen Monat. Mehr als eigentlich geplant war." „Findest du es gut, dass sie länger bleibt?" „Ich weiß nicht", erwiderte ich. „Sie hat sonst keine anderen Ort, wo sie hingehen könnte."  „Und jetzt da sie schwanger ist, will Dad noch mehr Rücksicht nehmen, aber..."
„Ich würde es besser finden, wenn sie gehen würde. Natürlich werde ich sie immer lieben, weil sie eben meine Mum ist, aber wenn sie gehen würde, hätte ich nicht mehr all diese verwirrten Gefühle über sie. Über uns. Über unsere Beziehung, wo wir jetzt stehen."   Adam küsste meine Stirn. „Mach dir darüber keinen Kopf, Süße",
„Heute hast du Geburtstag und wirst deinen Tag mit deinem lieblichen Freund das Biest verbringen."
Ich kicherte und schmiegte mich an ihn, während Adam versuchte die Fernbedienung zu betätigen.
Als der Film lief, kuschelte ich mich in seinen Armen und lauschte zu seinen Atemzügen.
Ich lächelte träge, als er mich ansah und ich drückte die Lippen auf seinen Mund, damit er nicht sprechen musste. Dafür waren meine Gefühle viel zu instinktiv und wild, um sie jetzt in meinem Kopf zu sortieren.  „Wenn wir uns küssen, können wir den Film nicht sehen", wisperte er in mein Ohr. „Und was ist, wenn es mir egal ist?", flüsterte ich zurück und küsste ihn erneut.
Und in diesem Moment fühlte ich mich ganz. So als wäre ich nicht mehr allein.

Endlich.

Kissing the Enemy Where stories live. Discover now