One Shot 23 - Zwischen den Fronten

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Harry P.o.V.

Die Menschen schrien, liefen überall herum und suchten jede Ecke als Versteck. Familien tummelten sich ängstlich in minimalen Räumen und pressten die Augen zusammen, aus Angst, gesehen zu werden. Sämtliche Tiere - Hunde, Katzen, Pferde, Esel - rannten zwischen Hauswänden herum und trampelten jeden nieder, der ihnen in den Weg kam. Schüsse erönten, Fenster rissen ein und Kinder schrien panisch nach ihren Eltern. Es war fast nichts mehr von der alten Stadt zu sehen, in der ich gewohnt hatte. Die Straßen waren voll von Trümmern, welche von Dächern oder Wänden standen. Bewaffnete Soldaten schlichen durch die Gassen und streckten nieder, was vor ihnen stand. Es war traurig, was ein Krieg auslösen konnte. Ich lag hinter einer Mülltonne versteckt und hielt mir mit der Hand meinen abgetrennten Fuß. Es tat verdammt weh. Der Schmerz kam schleichend, wie eine Art Gift. Es war so, als würde man eine spitze, dünne Nadel in die Haut stechen und immer tiefer bohren, immer mehr Druck ausüben. Es war grauenhaft. Meine Stirn war nass von dem Schweiß, den das Gefühl verursachte. Ein Wimmern entkam meinem Mund, ich stieß die angestaute Luft aus und zuckte zusammen, als ich Schritte neben meinem Kopf hörte. Irgendjemand lachte, dann wurde ich hochgezogen und an die Wand gedrückt. Vor Schmerz entkam mir ein spitzer Schrei, der in den Ruinen Braunschweig's widerhallte. "B - bitte lass m - mich g - gehen.", presste ich hervor und schloss die Augen. Ich wollte nicht sterben. Noch nicht jetzt, nach zehn Jahren. "Na gut, ich lass' dich gehen. Unter einer Bedingung: stell' dich vor euer Heer und mach' dich zur Zielscheibe!" In dem Moment war mir egal, was er forderte, ich wollte nur leben. Erschöpft nickte ich und als er mich daraufhin losließ, sackte ich an der Mauer zusammen. Mein Herz pochte tausend mal so schnell wie normalerweise und der Schweiß lief meine Wangen hinab. Mit aller Kraft stemmte ich mich hoch, suchte den Hauptplatz und machte die ersten Schritte dorthin. Schüsse wirbelten im Klang mit zusammenprallenden Klingen zusammen und die herzzerreißenden Schreie sterbender Menschen drangen zu mir durch. Schluckend humpelte ich weiter. Der Schmerz bohrte sich mit jeder Bewegung in mein Bein und immer wieder biss ich fest die Zähne zusammen. Ich musste durchhalten. Irgendwie. Einige Leute sahen mich verwirrt an, als ich langsam nach vorne ging, zum leeren Platz, an dem keiner stand. Jeder, der hier hinging, wollte sterben. "Was machst du da, Junge?!", schrie mir eine Mutter zu. Sie rannte zu mir und zog mich am Arm zurück, doch nur einige Meter danach ließ ich mich auf den Boden fallen. "Ich mache das Richtige. Bitte lass' mich gehen." Ich sah Tränen in ihren Augen glitzern, dann nickte sie und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. "Pass' auf dich auf, Kleiner." Als sie gegangen war, stand ich auf, sah mich um. Hinter mir standen die, die zu mir gehörten. Vor mir die, die mein Leben zerstören wollten. Die Blicke beider Heere lagen nun auf mir. Ich wusste nicht wirklich, was ich nun tun sollte. Soll ich mich einfach erschießen lassen oder für unsere Männer Partei ergreifen? Dann fing ich an zu sprechen. In mir wallte Mut auf. Mut, das hier durchzuziehen. Mut, um diesen Krieg zu beenden. Egal ob es gelingen würde oder nicht. Zuerst kamen mir die Worte nur schwer über die Lippen, doch nach und nach wurde es immer leichter und meine Stimme immer fester. "Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich hier tun soll. Das, was ich hier gerade mache, ist das Einlösen einer Schuld gegenüber einem von euch. Von den Menschen, die das Leben derer zerstören wollen, die immer friedlich gelebt haben. Immer schufteten für ihre Familie und nie etwas Böses taten. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt einfach abschießen lassen oder für diese Menschen sprechen soll. Mein Leben wird wahrscheinlich heute zu Ende sein, deshalb will ich für diese Menschen da sein. Ich frage euch: Was hat euch der Krieg gebracht? Was bringt er euch denn? Tausende Menschen sterben, sowohl Feinde als auch eigene Männer. Städte werden zerstört, Eigentümer an andere gerissen. Und für was soll das gut sein? Für was? Für die Ehre? Oder ist es eher die Angst vor dem Führer, die euch vorantreibt? Das alles müsst ihr euch selbst beantworten, doch alles - egal was ihr sagt - ist kein Grund, diese Menschen zu töten. Sie haben ein ganz normales Leben gelebt wie ihr. Haben vielleicht eine Familie oder jemanden, den sie lieben und nicht verlieren wollen. Sie wollen doch nur leben. Genau wie ihr. Wollt ihr diesen Krieg nicht auch überleben? Ich glaube schon. Ich kenne das Gefühl, kurz vor dem Tod zu stehen. Es ist so, als ob man das ganze Leben sehen würde. Alle Bilder, die einem wichtig sind, alles, woran man noch denken will, bevor man stirbt. Und immer habe ich überlebt. Oft dachte ich mir, dass jetzt vielleicht die Zeit gekommen ist und ich nach zehn Jahren nicht mehr auf dieser Welt erwünscht bin. Dass es so vorhergesehen ist, dass ich genau dann sterbe. Doch es war nie so. Ist es Zufall? Oder Schicksal? Ich weiß es nicht. Mein ganzes Leben habe ich damit verbracht, allein zu überleben. Meine Eltern sind tot, ich habe keine Menschen, die ich liebe. Ich wurde niemals ausgebildet, hatte niemals die Chance, mich verteidigen zu können. In diesen Zeiten ist das eigentlich normal, oder? Doch was ist 'normal'? Ganz sicher nicht, andere Leute auszubilden und sie auf den Kampf vorzubereiten. Es ist auch nicht normal, Menschen zu töten, egal ob Kinder, Frauen oder Männer. Babys liegen tot auf der Straße und ich frage mich, wie man das tun kann. Es sind unschuldige, wehrlose Wesen, die noch nichts von der Welt kennen. Wie kann man ihnen dann das Leben nehmen, wenn sie noch nichts davon bekommen haben? Wie kann man einem Menschen, der immer Gutes getan hat, alles stehlen und das immer wieder? Einem Lebewesen Schmerzen zuzufügen für jemanden, der Menschen einschüchtert, der nicht einmal weiß, was Nächstenliebe ist, ist nicht nach den Gesetzen der Religion. Auch, wenn ich persönlich nicht an Gott glaube, so weiß ich doch, dass das viele Leute hier tun und denken, Gott wäre hier. Aber ist das Nächstenliebe? Liebe ist ganz bestimmt nicht, andere zu töten. Und wenn es Gott geben würde, dann wäre ich enttäuscht von ihm. Er würde sehen, was für eine Gewalt hier herrscht und würde nichts tun. Absolut nichts. Leute erzählen, dass er die Menschen erschaffen hat, um sie zu lieben. Aber kann er sie lieben, wenn sie sich gegenseitig umbringen? Ja? Dann frage ich mich, wie er das tut. Ich bin nur zehn Jahre alt, doch habe Gedanken, die sich sonst nur Erwachsene denken. Auch das ist nicht normal. Wenn das zur Normalität wird und Kinder wie Erwachsene fühlen und denken, ist das keine schöne Welt mehr. Ich habe nie ein Glücksgefühl oder Liebe verspürt. Nie die Gelegenheit zu einem Lachen gehabt. Und wieso? Weil der Krieg mein Leben erfüllt. Zehn Jahre nur Krieg. Wisst ihr, wie das ist? Ja, ihr wisst es. Aber nicht wie ich. Ihr habt davor lachen können, lieben können. Und ich? Ich nicht. Ich musste in Angst leben. Musste Angst haben, jeden Tag zu sterben. Wenn ihr den Drang habt, jemanden zu erschießen, tut es bei mir, denn die Menschen hinter mir haben es nicht verdient. Sie wollen leben, genauso wie ihr. Ich aber weiß, dass mein Leben nie wieder schön und ausgefüllt sein wird. Also tut, was ihr tun wollt, doch tut es an mir, denn die Herzen dieser Bürger schlagen nicht für Krieg, sondern für Liebe." Ich holte tief Luft, die Rede hatte mir sämtliche Energie geraubt. Ich merkte, wie erschöpft ich eigentlich war und ließ mich nach unten auf den Boden gleiten. Ich schloss die Augen, die Müdigkeit kroch in meine Glieder und benebelte meine Sinne. Doch ich bekam noch mit, wie Menschen auf mich zugingen und mir hochhalfen. Doch dann waren die Hände weg und eine hohe Stimme erklang an meinem Ohr. "Junge, steh auf. Ich weiß nicht, wie du heißt, noch, was jetzt passieren wird. Aber ich will dir helfen. Ich bin nicht der Einzige, der nach deiner Rede von der schlechten zur guten Seite gewechselt ist. Nein, es sind Viele, die das getan haben. Und sie alle stehen hinter mir. Also stehe bitte auf und zeige den Menschen, was Liebe wirklich bedeutet. Denn sie müssen es lernen. Und du bist der, der das Potential dazu hat." Langsam hob ich meinen Blick. Vor mir kniete ein blauäugiger Mann mit braunen Haaren. Sie waren verstrubbelt und von Schweiß durchnässt. Ein kleines Lächeln lag auf seinen Lippen und in seinen Augen konnte man erkennen, wozu er wirklich stand. Hinter ihm entdeckte ich viele Menschen. Darunter auch den Mann, der mich gehen gelassen hatte. "Ich heiße Harry. Und ich werde nie das Potential dazu haben, denn das habt ganz alleine ihr. Ihr müsst entscheiden, was es heißt zu lieben, nicht ich. Ich konnte niemals lieben und werde es wahrscheinlich auch nie wieder tun können. Aber ihr - ihr könnt das. Also tut das Richtige und macht die Welt wieder ganz." Als ich diese Sätze sagte, baute sich in mir die Überzeugung auf, das Richtige getan zu haben. Menschen sollten sich nicht gegenseitig bekriegen, sondern sich lieben und nett zueinander sein. "Nein. Du wirst uns helfen und wir dir. Einer für alle, alle für einen." Fünf Jahre später war der Krieg beendet, es gab keinen Hitler mehr und Ruhe herrschte zwischen den ehemaligen Feinden. Ich saß in Louis' Wohnzimmer, um mich herum ein paar kleine Kinder, die lachend mit Autos spielten. Ich beobachtete die Szene gedankenverloren und stellte mir vor, wie gerne ich das getan hätte. Doch niemals würde ich das haben, was alle Kinder besitzen: schöne Erinnerungen. Denn meine werden immer traurig sein. Traurig, weil so Viele ihr Leben geben mussten, um einen zum Schweigen zu bringen.

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Der One Shot hat wirklich viel Zeit in Anspruch genommen und ist mir sehr wichtig. Krieg ist ein Thema, über das ich Stunden diskutieren könnte. Hoffe, ihr seid nicht allzu enttäuscht darüber, dass wieder so ein One Shot kam, doch ich kann es einfach nicht lassen, über die Vergangenheit zu schreiben. Bald kommt wieder Fluff, da gibt's wieder Liebe in der Luft.

-AnKa

Larry Stylinson One ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt