1. Vegane Äpfel

Beginne am Anfang
                                    

„Wie auch ein ganz normaler Schultag eben so ist. Langweilig", antwortete ich wahrheitsgemäß und nahm einen weiteren Bissen von meinem Burger.

„Oh", lachte er peinlich berührt. „Verstehe. Ich heiße übrigens Daniel", fügte er hinzu und begann seinen Apfel zu polieren. Mir fiel auf, dass kein Schnitzel auf seinem Teller lag. Stattdessen aber ein ordentlicher Haufen Brokkoli.

Er schien meinen Blick zu bemerken, doch nicht wirklich schlau aus ihm zu werden. „Was ist?", fragte er, während er sich nun das Grünzeug in den Mund schaufelte. Ich sprach widerwillig meine Gedanken aus. Daniel lächelte nur und erzählte mir, dass er Vegetarier sei und sogar darüber nachdachte sich dem Veganismus zu nähern. Dann biss er in seinen veganen Apfel.

Ich schielte zu meinem Burger und unterdrückte ein Lachen. Einige Minuten sagte niemand ein Wort, bis er sich hastig seinem Apfel widmete und mich fragend ansah.

„Nur um mir nochmal sicher zu gehen: Du bist doch Julies Bruder, oder?", hakte er mit vollem Mund nach.

Ich hielt inne, fragte mich kurz, wie er drauf kam, und nickte dann. „Sie hatte heute einen Termin beim Arzt."

Er nickte ebenfalls und stand auf. „Ich weiß", meinte er und sah auf die Uhr. „Wir haben noch fünf Minuten, du solltest dich beeilen, wenn du nicht zu spät zur Nachhilfe kommen willst."

Als er das sagte, stockte ich verwundert. Nachhilfe?

Bevor er merken konnte, dass ich überhaupt keine Ahnung hatte, wovon er sprach, lächelte ich schnell. „Okay, danke", meinte ich knapp und nickte ihm zu.

Daniel lächelte ebenfalls. „Man sieht sich."

Also, ich weiß ja nicht. Er schien ganz schön gesprächig zu sein.

* * *

Nachdem ich dummerweise viel zu spät realisiert hatte, dass ich nichts mehr in der Schule zutun und den Burger völlig umsonst vertilgt hatte, bin ich in mein Auto gestiegen und losgerast.

Es war schön gewesen, das Haus zu betreten und nichts zu hören. Seit zwei Wochen hatte ich durchgehend Kopfschmerzen. Vor ein paar Tagen, am Freitag, sind mein Dad und ich offiziell wieder bei Mum und Julie eingezogen. Ich hatte vergessen, wie toll es war, ein inoffizielles Einzelkind zu sein. Jules erinnerte mich jetzt jeden Tag schmerzlich daran.

Erleichtert seufzend lief ich in die Küche und schob eine Fertigpackung Lasagne in den Backofen. Gerade als ich darüber nachdachte, schnell eine zweite daneben zu stellen, kreischte plötzlich jemand los.

„Carter! Seit wann bist du denn hier? Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört!"

Mein Herz brach, genauso wie mein Trommelfell zerriss, als ich die Stimme meiner Cousine vernahm. Susan. Sie war eine sehr laute Person. Fragt mich nicht, was sie bei uns Zuhause zu suchen hatte. Ich wusste es selbst nicht und wollte es auch gar nicht erfahren.

„Fertiglasagne? O Gott, Carter, ernähre dich mal gesünder!", begann sie zu meckern, während ich mir etwas Cola eingoß. Tief einatmend drehte ich mich zu ihr um und sah, wie sie sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank nahm. Fettarm natürlich.

„Hmm, schmeckt gut", erzählte sie mir dann, bevor sie sich den Löffel überhaupt in den Mund geschoben hatte. Da war jemand anscheinend der Meinung, dass es mich interessierte. Ich lasse sie gleich mal meine Faust kosten, mal sehen ob die ihr schmecken wird.

„Susan, hast du nichts besseres zu tun als hier einen Joghurt zu genießen?"

Sie hielt inne und sah mich für einige Sekunden mit großen Augen an, bevor sie entrüstet die Arme vor der Brust verschränkte und obendrauf auch noch dabei fast den Joghurt verschüttete. „Was soll das denn heißen, Carter? Wir haben uns vielleicht seit einem Jahr nicht mehr gesehen und du-"

„Um genau zu sein, haben wir uns letzten Freitag–"

„Spielt doch überhaupt keine Rolle!"

Ich sah sie schräg an und drehte mich dann schulterzuckend um, um einen letzten Blick auf mein Baby im Ofen zu werfen. „Okay, Susan."

Sie schnaubte und stolzierte plötzlich aus der Küche, ins Wohnzimmer, um dort den Fernseher einzuschalten und sich auf die Couch zu pflanzen. Ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden, holte ich einen großen Teller aus dem Hängeschrank über der Spüle und stellte ihn bereit für mein heißes Date.

* * *

Als ich nach einer halben Stunde endlich am Esstisch saß - mein Zimmer war zu unordentlich, ich hätte mein Essen dort niemals genießen können - und aß, meinte Susan plötzlich laut zu seufzen. Mehrmals, damit ich es auch ganz sicher hörte. Dabei hing ich nur an meinem Handy und versuchte ein friedliches Leben zu führen. 

„Carter, ich hab' ein Problem und du musst mir helfen!", heulte sie schon beinahe ein paar Sekunden später.

„Bring dich einfach um", riet ich ihr unbeeindruckt.

Das Nächste, was ich hörte, war ein frustriertes Stöhnen und lautes Gestampfe auf der Treppe. Die würde nicht so schnell wiederkommen, da konnte ich mir sicher sein.

Das Vibrieren meines Handys wischte mir jedoch das zufriedene Lächeln aus dem Gesicht. Merkwürdig, aber ich dachte kaum an meine Freunde in Swindon. Lucien, mein bester Freund, studierte sowieso hier in London, sodass wir endlich keine Fernbeziehung mehr führen mussten. Es war nur komisch mitzulesen, wie die anderen planten, auf welche Party sie als nächstes gehen würden und darüber sprachen, wie das Fußballspiel am Tag davor ausgefallen war, während ich Kilometer entfernt in London festsaß.

Mit jedem verstreichenden Tag vermisste ich Swindon–und meine mit der Stadt ehemals  verbundenen Freiheiten–immer mehr. 

 * * *

Gegen Abend kam meine Mutter nach Hause und fragte mich, wie mein erster Schultag an meiner neuen Schule denn so gewesen ist. Noch bevor ich antworten konnte, stürmte Julie in die Küche und bombardierte mich mit tausenden von Fragen und Entschuldigungen. „Beruhige dich, Julie!", rief meine Mutter, doch sie achtete gar nicht auf diese.

„Carter, bitte sag nicht, dass du mit Linda gesprochen hast! Sie ist eine richtige Schlange und-"

„Nein, Julie!", unterbrach ich sie. In Wirklichkeit konnte ich mir da gar nicht sicher sein, da ich so gut wie alle Namen bereits wieder vergessen hatte.

„Sicher? Sie ist blond, blonder als ich und ihre Augen sind-"

Ich legte ihr eine Hand auf den Mund und bemerkte den dankbaren Blick meiner Mum, bis sie sich aus meinem Griff befreite und beleidigt ein paar Schritte zurück stampfte. Jules schnaubte und sagte dann: „Ich versuche nur zu helfen, aber okay. Wo ist Susan?"

Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte sie aus dem Wohnzimmer und automatisch kehrte angenehme Stille ein. Mum und ich schwiegen kurz, bis sie sich erschöpft an die Arbeitsplatte lehnte und von ihren anstrengenden Schülern erzählte. Die Arme war Middle School-Lehrerin, wofür ich sie echt bemitleidete, aber merkwürdigerweise stand sie total auf ihren Job, obwohl diese 13-jährigen Rotzlöffel ihr jeden Tag Kopfschmerzen bereiteten.

Ich dachte über Julies Worte nach und bekam automatisch schlechte Laune, als mir wieder einfiel, dass ich von nun an in denselben Jahrgang wie meine kleine Schwester gehen würde. Und das bis zu unserem Abschluss. Ein ganzes, endloses Jahr. Wie sollte ich mir Mädchen klarmachen, wenn mich jemand rund um die Uhr böse anfunkelte?

Ich hoffe, wir haben so wenige Kurse wie möglich zusammen. Am besten wären natürlich gar keine.

„Jetzt muss ich endlich nicht mehr den Bus nehmen", ertönte plötzlich Julies glückliche Stimme in unmittelbarer Nähe und ich zuckte zusammen, als sie hinter mir erschien und sich an mich hängte. Gerade war sie noch beleidigt gewesen und jetzt umklammerte sie zufrieden meinen Arm.

Auch das noch.

BorderlineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt