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Susanne wirft ihren Rucksack auf das Bett im Zimmer in einer kleinen Pension, tritt ans Fenster und geniesst die Aussicht. Sie fühlt sich so gut wie lange nicht mehr. Nachdem ihre Söhne ihr keine Ruhe gelassen hatten, ist sie nach einem Streit mit ihrem Mann in einer Nacht- und Nebelaktion von zuhause weggefahren. Das Klassentreffen ist erst in einer Woche und sie will die Zeit nutzen um gründlich nachzudenken. Ihr Mann wird toben und sie hat Bedenken, dass er ihren Söhnen etwas antun könnte, aber die beiden sind gut bei Freunden aufgehoben, das beruhigt sie etwas. Langsam schweift ihr Blick über die Berge und den See, der vor ihr liegt. Sie beschliesst ein wenig nach draussen zu gehen.

Tief einatmend setzt sie sich auf eine Bank am Seeufer. Sie denkt über ihr bisheriges Leben nach ... an die Mitschüler, die ihr hier das Leben zur Hölle gemacht hatten - es gab auch wenige Ausnahmen - dann an die guten Jahre in Hamburg, wo sie viele Freunde gewonnen hatte, an die ersten Begegnungen mit Thilo, ihre Hochzeit, die Geburten von Manuel und Steffen, an die Kälte, die schleichend in ihre Beziehung kam und in körperlicher Gewalt endete.
"Womit hab ich das alles verdient? Bin ich wirklich so ein schlechter Mensch, dass mich niemand mag?", flüstert sie und Tränen laufen aus ihren geschlossenen Augen. Sie merkt nicht, dass sich ihr ein Mann nähert, bis er sie anspricht.
"Alles in Ordnung mit Ihnen?"
Susanne erschrickt und wischt sich schnell über ihr Gesicht, um dann ein gespieltes Lächeln aufzusetzen. Doch bevor sie die Augen öffnen und antworten kann, fragt die Stimme überrascht: "Susi?" Jetzt schaut sie auf und blickt in die grauen Augen von Thorsten. "Hey", flüstert sie, zu mehr fühlt sie sich grad nicht in der Lage. Er setzt sich mit etwas Abstand neben sie. "Hey ... was ist denn los?" Abwehrend schüttelt Susanne den Kopf. "Nichts ...geht gleich wieder" - "Also, nichts sieht anders aus. Gut, Themenwechsel. Bist du nicht etwas früh hier?" - "Ja, zum Nachdenken. Eigentlich wollte ich ja nicht mal zum Klassentreffen kommen. Aber mein Sohn meinte, ich muss mal raus" - "Kluger Sohn", schmunzelt Thorsten. "Wie gehts dir so? Bist du verheiratet? Nur ein Kind oder mehrere?" - "Verheiratet, zwei Söhne". Thorsten bemerkt den bitteren Ausdruck, der sich auf Susannes Gesicht gelegt hat. "Wie alt sind die beiden?" - "Steffen ist 18, Manuel 16" - "Wow, schon so groß", staunt er. "Und du?", will Susanne wissen. "Naja, ich hab später angefangen als du", grinst er, "ich bin seit fünf Jahren verheiratet, unser Großer ist fast drei und die Zwillinge sind acht Monate alt" - "Oh, klingt anstrengend" - "Ja, aber Alex ist eine wundervolle Mutter", strahlt Thorsten und Susanne schluckt hart, während sie ihre Tränen wieder bekämpft.
"Du kannst mit mir reden, Susi. Manchmal hilft eine fremde Meinung weiter", sagt er leise, da ihm ihre Reaktion nicht entgangen ist. Doch Susanne strafft ihre Schultern und steht auf. "Wir sehen uns am Samstag, oder?" - "Ja ... aber ..." - "Bis dann Thorsten". Sie kommt nur ein paar Schritte weit, als er sie am Handgelenk festhält. "Gib mir wenigstens deine Nummer, Susi" - "Wozu?" - "Dann schick ich dir meine. Wer weiß, ob du sie nicht mal brauchen kannst" - "Warum solltest ausgerechnet du mir helfen können?", fährt sie ihn an. "Jetzt bist du ungerecht, Susi. Ich war immer derjenige, der die anderen gebremst hat und nie mitgemacht hat, wenn sie gemein waren" - "Aber du hast zugesehen", flüstert sie und wendet sich wieder ab. "Susanne! Ja ... das war falsch, das weiß ich heute. Aber damals ... es ist nicht so einfach, wie es vielleicht aussieht. Trotzdem will ich dir helfen!" - "Mir kann man nicht helfen". Mit diesen Worten läuft sie den Weg entlang zu ihrer Pension. Thorsten schaut ihr lange hinterher. Die Traurigkeit, die Susanne ausstrahlt, setzt ihm zu und er beschliesst, alles zu versuchen um herauszufinden, was genau mit ihr in den letzten Jahren passiert ist.

Zuhause setzt sich Thorsten an den Computer, um alle möglichen Social Media Kanäle nach Susanne abzusuchen, doch er findet nichts.
"Was ist denn los mit dir? Du bist komisch". Alex steht hinter ihm und umarmt ihn. Nach einem Blick auf den Bildschirm fragt sie weiter: "Sollte ich mir jetzt Gedanken machen? Wer ist diese Susanne, die du suchst?" Er dreht sich um, legt seine Arme um ihre Hüfte und zieht sie auf seinen Schoß. "Susanne war mit mir und den anderen in einer Klasse. Ich habe sie heute am See getroffen. Sie ist ... ich weiß auch nicht ... extrem traurig, sie strahlt zwar Stärke aus aber irgendetwas zwingt sie in die Knie - und ich würde gerne wissen, was das ist" - "Hm ... ist sie verheiratet?" - "DARÜBER machst du dir Gedanken?" - "Ja klar. Wenn das ...", sie nickt zum Bildschirm, "... ihr Mädchenname ist und sie den Namen ihres Mannes angenommen hat, wirst du sie nicht so einfach finden". Grübelnd sieht Thorsten seine Mate an, dann stupst er sie auf die Nase. "Ich habe wirklich eine kluge Frau geheiratet", schmunzelt er, gibt ihr einen Kuss und greift dann zum Handy. Nach einem Anruf bei Marlene, die das Klassentreffen organisiert hat, weiß er den aktuellen Namen und gibt den in die Suchleisten ein. Er findet nicht viel, ihre Profile sind überall privat, nur manche Fotos sind zu sehen. Er vergleicht alte und neue Bilder und irgendwann in den letzten drei Jahren verloren ihre Augen das Funkeln, sie lächelt zwar meistens in die Kamera, aber es wirkt immer aufgesetzt. "Du hast recht, Schatz. Irgendwas ist passiert, sie wirkt verletzt auf den neuesten Fotos. Allerdings ... hier schaut sie auch nicht glücklich aus". Alex deutet auf ein altes Klassenfoto, das sie entdeckt hat. "Das war sie wahrscheinlich auch nicht", murmelt Thorsten. "Warum?" - "Weil Louis und seine Gang mit ihren Girlies sie immer runtergemacht haben. Sie war damals etwas fester als der Rest der Mädchen und ein bisschen tollpatschig" - "Du bist auch im Rudel!" - "Ja, aber ich hab mich immer zurückgehalten, das musst du mir glauben" - "Sie war ein hübsches Mädchen" - "Ja, sie hat auch nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Nur ist sie heute sehr schlank, fast schon zu dünn, finde ich" - "Warum waren sie so zu ihr?" - " Ich weiß es nicht, Maus. Ich hab das nie wirklich verstanden. Manchmal glaube ich, dass es seine Strafe ist. Dass er nie seine Mate gefunden hat".

Alpha LouisWhere stories live. Discover now