101.Kapitel~ "Wer sie sichtet, meldet sich unverzüglich bei den Ken."

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Tiefdurchatmend betrete ich ein Haus nach dem anderen, auf der Suche nach Lexi. Doch ich finde sie nicht. Hier und da schlafen ein paar Fraktionslose, aber sie beachten mich kaum.

Als ich das Haupthaus betrete, wo ich mich zu meinen Zeiten häufig aufgehalten habe, fühle ich mich fast ein bisschen wie Zuhause.
Es mag komisch klingen, aber es ist so. Die Fraktionslosen haben mich aufgenommen, einfach so. Sie waren mehr oder weniger für mich da.

Wachsam sehe ich mich um. Wieder keine Spur. Doch als ich meinen Blick in die hinterste Ecke schweifen lasse, erkenne ich ein bekanntes Gesicht.
"Rick!", sage ich laut.
Der Junge hebt fragend den Blick. "Ally?"

Mir scheint ein Stein vom Herzen zufallen, beinahe hätte ich losgelacht. Sie haben ihr Gedächtnis also doch nicht verloren.

Meine Antwort darauf ist ein Nicken. Aber irgendetwas scheint mit dem dunkelhaarigem nicht zustimmen. Normalerweise ist er viel am Lachen und Scherzen. Und jetzt? Er ist traurig, dass sieht man ihm an.

Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass es wohl daran liegt das West abgehauen ist, ihn allein zurück gelassen hat.

"Hast du Alexia gesehen?", frage ich ihn, als ich mich ihm nähere.

Er schüttelt den Kopf. "Nein."
"Danke trotzdem.", murmle ich.

Hastig schaue ich mich weiter um, frage ab und an einen Fraktionslosen nach Lexi, jedoch kann mir niemand eine Antwort geben. Das sie alle ihr Gedächtnis noch haben, wirft im Bezug auf Kieshiena so einige Fragen auf.

Enttäuscht verlasse ich das Gebäude. Weder Lexi noch Edward sind irgendwo zu finden. Ich schlürfe hinaus in die Dunkelheit, den Blick gesenkt.

Doch nur eine Sekunde später stoße ich volle Kanne mit jemanden zusammen.

"Kannst du nicht aufpassen?", blafft das Mädchen.
Als ich den Blick hebe, bin ich völlig verdaddert, aber das Grinsen das sich über meine Lippen zieht, ist riesig. Es ist Lexi, die im sperrlichem Licht vor mir steht.
Aber sie wirkt verändert auf mich, fertig, traurig, schon fast verbittert. Außerdem sind ihre Haare kürzer, reichen ihr nur noch bis zum Kinn. Und die Augen wirken müde.

Es kommt mir vor, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, dabei liegt unsere letzte Begegnung höchstens zwei bis drei Wochen zurück.

Bevor sie etwas sagen kann, schließe ich sie in meine Arme und ziehe sie fest an mich.

"Ich bin so froh, dich zusehen, Ally.", murmelt sie an mein Ohr. "Verdammt, ich dachte, du hättest es nicht geschafft."

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen lasse ich sie los.
"Doch, ich bin lebendig.", erwidere ich. "Putzmunter."

"Die Ken suchen nach dir.", sprudelt sie gleich los. "Was suchst du überhaupt hier?"

"Es ist sehr wichtig.", versuche ich ihr klar zumachen. Und dann erzähle ich ihr von dem Gedächtnisreset, den Ampullen, alles was mir in den Sinn kommt. Irgendwann spreche ich Edward an. Sie nickt lediglich, wirkt auf einmal distanziert.

"Edward ist tot.", ist alles was sie dazu sagt. Es ist offensichtlich, dass sie mit ihrer Fassung ringt.
Mir vergeht alles. "Er wurde erschossen, als er die Schalen der Bestimmung zerschlagen hat. Hier ging alles drunter und drüber."

Einen Moment lang fühle ich mich so, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen.
Zwar kannte ich Edward nicht besonders gut, aber ich weiß, dass er einer der Guten und Willensstarken war.

Als ich die Tränen in ihren braunen Augen bemerke, nehme ich sie in den Arm. Ich weiß genau, dass die beiden gute Freunde waren. Sie möchte nicht weiter darüber reden- was ich voll und ganz verstehe- und deswegen lasse ich sie auch damit inruhe.

Doch je mehr ich über den blonden Jungen mit der Augenklappe nachdenke, desto stärker kommen die Erinnerungen an die Nacht, als ihm das Auge ausgestochen wurde, zurück. Ich schlucke schwer.

"Machen wir das mit dem Serum am besten sofort.", wechsle ich das Thema.

Abermals nickt sie zustimmend. "Okay."
"Könnte vielleicht ein bisschen weh tun."

Lexi zwingt sich zu einem Lächeln und zuckt mit den Schultern. "Ich werd's schon verkraften."

So vorsichtig wie möglich verpasse ich ihr die Spritze. Sie scheint genauso wie Dustin zu sein. Es scheint ihr nicht annähernd etwas auszumachen.

"Komm mit, du legst dich noch für ein paar Stunden hin.", weist Lexi mich an. "Und du isst was."
Unwillkürlich huscht ein Grinsen über meine Lippen.
"Ich kann nicht.", versuche ich abzulehnen. "Aber danke."
"Du kannst sehr wohl." Ihre Stimme nimmt einen befehlerischen Ton an.

"Ich muss Morgen früh zum Hauptquartier der Candor.", erkläre ich ihr, obwohl der Gedanke an ein paar Stunden Schlaf und Essen sehr verlockend ist.
Wie zur Zustimmung gibt mein Magen ein leises Knurren von sich.
"Ich wecke dich rechtzeitig. Versprochen."
Einen Moment lang denke ich darüber nach, willige dann jedoch ein. Es kann ja nicht schaden. Die Fraktionslosen hassen Jeanine eben so sehr wie ich, weswegen ich bezweifle das einer von ihnen mich melden würde.

Also folge ich der schwarzhaarigen zurück ins halb eingefallene Gebäude und lasse mir eine Dose mit Suppe geben. Ich löffle sie beinahe komplett leer, bis ich satt bin.

Ich bedanke mich bei ihr und mache es mir anschließend auf eine der Matratzen gemütlich. Während ich mit geschlossenen Augen da liege, rasen meine Gedanken.

Das hier war einer der wenigen Orte an denen ich mich trotz der Umstände recht wohl gefühlt habe. Wo man mich halbwegs normal behandelt hat.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Edward, das ganze Blut.
Mein Vater, der zitternd, immer blasser wird.

Eric, dessen Blut sich langsam einen Weg über den weiß gefliesten Boden bahnt.
Höre die Schreie der unschuldigen Altruan, die getötet wurden.
Wiederhole Ethans Angriff auf mich.
Ich beiße die Zähne fest zusammen, und beginne die Zahlen von tausend herunterzurattern.

Wenigstens dann hört das alles auf.

Es ist Wunder, das ich es überhaupt schaffe einzuschlafen.

Ein klitzekleiner Funken Hoffnung keimt in mir auf. Auch wenn die gesamte Lage völlig verloren wirkt.

Ich- nein- wir. Wir werden es irgendwie schaffen.

Willenlos | Divergent / Die Bestimmung ✔Where stories live. Discover now