»Nur Verwandte des Patienten dürfen rein. Er braucht jetzt viel Ruhe und Erholung. Auf Mister Night wartet nun eine lange Therapie.«

Ich presste die Lippen fest aufeinander. »Ich bin-«

»Vielen Dank für alles. Wenn seine Ehefrau eintrifft, werde ich sie an Sie verweisen.«, funkte Shane schnell dazwischen als er bemerkte, was ich vorhatte.

Genervt wandte ich mich von ihm ab. Es konnte doch egal sein ob der Rest der Welt erfuhr, dass ich Belle Night, die nachfolgende Anführerin der Roten war! In Sicherheit war ich schon lange nicht mehr.

»Belle, versuch dich bitte etwas zurück zu halten. Ich werde dafür sorgen, dass du deinen Vater siehst. Warte kurz hier und rede mit niemanden.«

Wütend fuhr ich mir durch die Haare. »Beeil dich.«

Sobald er verschwunden war, nahm ich wieder Platz und starrte das Gemälde im Wartebereich an. Es waren Farben, die wild auf die Leinwand geklatscht wurden. Ob es eine Bedeutung hatte, wusste ich nicht und konnte mir nur sehr schwer vorstellen, was es bedeuten könnte. Es war mir egal. Nur wegen meinem dummen Wunsch Künstlerin zu werden, hatte ich mich mit meinem Vater gestritten. Das war es nicht Wert gewesen. Doch das erkannte ich leider zu spät.

Wütend auf mich selbst, ballte ich die Fäuste. Am liebsten würde ich jetzt dieses dumme Bild von der Wand reißen und in Stücke zerreißen.

Ich würde bald neunzehn werden und scheuchte einem naiven Wunsch von Normalität hinterher. Wie bescheuert das wohl für Außenstehende wie Shane wirken musste? Die rote Prinzessin, die dafür geboren wurde eines Tages ein ganzes Land zu führen, aber statt sich darauf vorzubereiten, träumte sie vor sich hin und beschmutzte sich mit Malfarben. Dabei war es längst an der Zeit, erwachsen zu werden, Verantwortung zu übernehmen, seinem Schicksal nicht mehr davonzulaufen.

Mein Leben brauchte einen Wendepunkt und der kam als ich Jack gegenüberstand. Jetzt konnte ich nicht mehr so tun als wäre es nicht mein Volk, das unter der bisherigen Führung litt. Jetzt konnte ich die Schmerzen in ihren Augen nicht ignorieren. Jetzt war ich an der Reihe, mein Bestes zu geben, um ihr Leid zu erleichtern.

»Morgen kannst du ihn sehen. Heute wird er nicht in der Lage sein, jemanden zu empfangen.«, erschien Shane plötzlich wieder neben mir und riss mich aus meiner leeren Starre. Als er merkte, dass ich keine Reaktion von mir gab, hakte er nach: »Belle?«

Ich atmete tief aus und lockerte meine Fäuste wieder als ich mich aufstellte. »Verstanden, ich werde in der Zeit einfach in meinem Patientenzimmer warten.«

Bis morgen musste ich mir dann wohl den Kopf über den Zustand meines Vaters zerbrechen. Aber ihm ging es gut. Sein Herz schlug wieder. Und das war das Wichtigste fürs Erste. Morgen würde ich ihn wiedersehen. Heute war nicht das letzte Mal gewesen, dass ich ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Unsere Feinde hatten es nicht geschafft, ihn von mir zu nehmen. Diesmal nicht. Heute nicht.

Shane hatte mich noch bis zu meinem Zimmer begleitet, wo ich dann auch den restlichen Tag verbracht hatte. In der Zeit hatte ich paar mal versucht, Sierra zu erreichen, aber ihr Telefon war ausgeschaltet. Dennoch war ich mir sicher, dass unsere Mitarbeiter sie längst über die jetzige Lage aufgeklärt hatten. Aber warum kam sie nicht? Machte sie sich keine Sorgen um ihren Mann? Oder war sie gerade nicht im roten Viertel und brauchte daher länger hier her?

Im Dunklen zu stehen war immer unangenehm. Doch mein Leben lang verschwieg man mir alles. Warum sollte es jetzt anders verlaufen? In den Augen meiner Familie war ich nur ein verzogenes Kind, das nach dem Tod ihrer Mutter alles bekam was sie sich wünschte. Früher hätte ich einen Streit angezettelt, wenn mir jemand so etwas vorwerfen würde, aber heute würde ich dem zustimmen. Denn genau das war ich nun mal. Im Vergleich zu den Menschen im schwarzen Viertel, war ich sogar schlimmer als eine verzogene Rote. Wieso genau dachte ich damals, dass ich besser sei als alle anderen? Worin unterschied ich mich von ihnen? War es, weil ich mehr Geld hatte als die Anderen? War das wirklich, wie ich einst dachte?

Beschämend.

Ich legte mich auf den Rücken und schloss die Augen, aber öffnete sie nach nicht mal zwei Sekunden wieder. Ich konnte nicht schlafen. Meine Vergangenheit, mein früheres Ich, wollte mir diese Nacht keinen Frieden schenken.

Als ich das erste Mal Jack in dieser Höhle begegnete, dachte ich wirklich, dass alles vorbei war und ich an dem Tag sterben müsste. Doch was geschah danach, dass es ausgerechnet Jack war, bei dem ich Zuflucht suchte als ich den Blauen, meinen eigentlichen Gleichgesinnten, gegenüberstand und sie mir an den Kragen wollten? Wie hatte ich plötzlich meine Angst vor Jack überwunden und ihm quasi mein Leben anvertraut?

Das verstand ich nicht. So viel Kontakt zu ihm im schwarzen Viertel hatte ich dann nun auch nicht.

Irgendwann holte die Erschöpfung meinen Körper doch noch ein und riss mich in einen unruhigen Schlaf.

~~~

Wir betraten schließlich das Zimmer, in dem sich mein Vater aufhielt. Als ich eintrat, öffnete dieser seine Augen und schenkte mir ein schwaches Lächeln, das mir unwillkürlich neue Tränen in die Augen trieb. »Wie geht es dir?«

Mein Vater lachte rau. »Fühle mich topfit.«, beendete er hustend.

Augenverdrehend setzte ich mich an den Bettrand und nahm seine Hand. »Ich hatte Angst um dich.«

Wieder ein kleines Schmunzeln. »Das brauchst du nicht. Wie du siehst, kann man mich nicht so schnell loswerden.«

Wenn er das Thema schon mal ansprach... »Wer war das? Wer hat dir das angetan?« Der Gedanke, dass jemand meinen Vater umbringen wollte, brachte das Blut in meinen Venen zum brodeln.

Plötzlich wurde er ganz ernst, warf einen bedeutungsvollen Blick in Shanes Richtung, welcher daraufhin das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zumachte.

»Ist Sierra gekommen?«

»Nein.« Ich seufzte. »Änder nicht das Thema. Wer hat-«

»Ich glaube, dass sie es war.«

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWhere stories live. Discover now