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Elide

Es war das erste Mal, das die zehnjährige Eurydice ein Musical besuchte.
Das erste Mal, das die bunten Kostüme der Schauspieler sich in ihr Gedächtnis brennen würden, um nachher in einem Skizzenbuch zu landen und das erste Mal, das sie sah, wie Menschen sich so flüssig im Rhythmus der Musik bewegten, als wären sie selbst ein Teil davon - oder als würde der Herzschlag jeder einzelnen Tänzerin und jedes anderen Tänzers sich dem Takt so makellos anpassen, dass die Muskelbewegungen atemberaubend mühelos wirken. Die Augen gefesselt auf die Bühne gerichtet, als das Musical zum Schluss kam, lehnte sie sich zu ihrer Mutter und flüsterte: "Wie machen sie das?"
Ohne dass sie ihr Gesicht drehen musste, wusste Eurydice, dass sie lächelte.
Sie spürte es an der herzlichen Wärme, die die Stimme ihrer Mutter wie Honig ummantelte, als sie antwortete: "Übung, agapité mou. Eine Menge Übung."
"Kann jeder es lernen?"
"Willst du es denn lernen?"
Eurydice nickte entschlossen, Augen leuchtend vor Freude und Erwartung.
Sie wollte es unbedingt lernen.

Am selben Abend, als der Mond bereits seinen Platz am dunklen Himmel zwischen dunklen Gewitterwolken eingenommen hatten, und Eurydice sich müde ins Bett legte, summte sie noch immer einer der vorgeführten Melodien und sah Künstler durch die Luft springen.
Ihr Bruder, Howard, gab von seinem Bett aus einen genervten Laut von sich.
"Hör auf zu singen, Eury. Du nervst."
"Du nervst." Zum Protest sang sie noch ein kleines wenig lauter. Ein kleines wenig.
Aus ihrem Augenwinkel sah sie, wie Howard die Decke wegschlug und sich aufsetzte. Seine schmale Brust wölbte sich, als er Luft holte.
Eurydice hatte Lust ihn zu schlagen.
"MOOOOM! EURY LÄSST MICH NICHT SCHLAFEN!"
Schnaubend bewarf sie ihn mit alten Schokoladenpapier, das sie unters Bett geworfen hatte.
Kaum hatte Howard ein übertriebenes "Au!" von sich gegeben und knüllte das Papier erneut zusammen, um sie wiederum damit abzuwerfen, öffnete sich die Tür des kleinen Schlafzimmers, das halb halb aufgeteilt war, wobei Eurydice fand, dass die Seite ihres Bruders größer wirkte, obwohl seines doch voller war. So war sein Schrank größer als ihrer und er hatte einen Schreibtisch, den sie nicht hatte. Das einzige, was ihren Teil wirklich ausfüllte, waren wohl die Skizzen an den Wänden, für die sie jedes Mal aufs Neue getadelt wurde.
Auch diesmal warf ihre Mutter ein Auge auf die neusten Kritzeleien, beließ es diesmal jedoch bei einem enttäuschten Kopfschütteln und hustete kurz auf.
Dann wandte sie sich Howard zu, der das Papier rasch in den Spalt zwischen Matratze und Bettgerüst stopfte. "Ti symvaínei agápi mou?"
"I Eurydice tragoudá óil tin óra kai eínai chália."
Genervt verdrehte sie die Augen. Ihre Mutter verschränkte die Arme vor der Brust, löste sie jedoch, sobald sie sich an ihr Bett hockte. "Morgen darfst du so laut und lang singen wie du willst, aber jetzt wird geschlafen, gia na?"
Eurydice nickte mit dem Kopf und zog die Decke höher. "Gia na."
Dann leuchteten ihre Augen auf.
"Kannst du uns was vorsingen?"
Begeistert warf ihr Bruder ein "Bitte" in die Luft.
Das Zögern ihrer Mutter fand Ausdruck durch das Zusammenschieben ihrer Brauen und Eurydice befürchtete bereits, sie würde nein sagen - doch dann seufzte sie.
"Próstimo", murmelte sie auf Griechisch und setzte sich an ihre Bettkante, aber so gedreht, dass sie Howard und ihr problemlos in die Gesichter sehen konnte.
"Cruel and cold
like winds on the sea
Will you ever
return to me?
Hear my voice
sing with the tide ..."
Eurydice konnte spüren wie ihre Lider schwerer und schwerer wurden und die Rauheit der Stimme ihrer Mutter bei den folgenden Worten ging unter in der Flut von Müdigkeit, die sie mit sich riss.
"My love will never die ..."

Am nächsten Morgen war ihre Mutter tot.
Ihr Vater fand sie reglos und blass neben sich in Bett, die Augen halb geöffnet, die Finger zusammengerollt.
Was geschah, nachdem sie und Howard dem Schrei ihres Vaters gefolgt waren, wusste sie nicht mehr genau.
Alles was sie wusste, war, dass sie an diesem Tag nicht sang.

Black Jackal | Bucky FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt