Part 12|Genug.

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N U R C A N

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N U R C A N

Grinsend laufe ich raus aus der Psychiatrie. Ich gähne auf und strecke meine Arme in der Luft. Das waren harte acht Monate, aber ich habe es dennoch geschafft. Ich kremple mein Pullover an den Armen hoch, da es ziemlich warm geworden ist.

„Frei.", murmle ich vor mich hin. Erneut gähne ich auf. Es ist noch viel zu früh. Gerade mal sechs Uhr morgens. Eigentlich würde mich mein Vater in zwei Stunden abholen, aber länger kann ich nicht in dieser Irrenanstalt bleiben. Ich bin doch nicht verrückt! Nur weil ich mehrere Nervenzusammenbrüche und Angstzustände bekommen habe, meinten die Ärzte dass dies das beste für mich sei. Dein Selbstmordversuch. Augenrollend schlage ich diesen Gedanken weg. Nie wieder. Wie konnte ich das tun, für irgendeinen dahergelaufenen Typen. Er widert mich an. Schnell schlage ich auch den mir aus dem Kopf. Dieser Lügner. Weil ich so verzweifelt war, habe ich mich versucht umzubringen. Und dafür hasse ich mich. Ich vergesse niemals die Schreie meiner großen Schwester, Shirin. Sie hat sehr viel gelitten. Immer wieder hat sie gefragt, was der Auslöser war. Aber wie soll ich ihr erklären, dass ich einen dummen Fehler begangen habe? Ich habe das erste mal meinen Vater weinen gesehen. Und das nicht für einen Moment. Jeden Tag musste ich meinen Vater dabei zusehen, dass er nicht mehr weiter weiß. Er hat nicht verstanden, wieso ich das gemacht habe. Für ihn wirkte alles perfekt. Meine Mutter war für drei Monate stumm. Sie hat nichts mehr gesagt. Auch sie sollte eigentlich professionelle Hilfe bekommen, aber sie hat es abgelehnt. Viel mehr wollte sie sich auf mich fokussieren. Ich seufze auf. Was habe ich meiner Familie nur angetan. Und das nur, weil ich meine Beine zuhalten konnte. Was ist in mich gefahren? Wie kann es sein, dass man mich austrickst? Dass man mich komplett verarscht?

»Sag mir bitte, was passiert ist.« Die Worte meines Bruders hallen immer noch in meinem Kopf. Wie hätte ich es Diliyan beichten sollen? Ich halte meine Arme hinter meinem Kopf und schaue rauf in den klaren blauen Himmel. Erneut seufze ich auf und schließe meine Augen. Mein Herz schlägt so schnell und fest, dass ich langsam wieder Angst kriege.

„Es ist vorbei.", spreche ich leise auf mich ein. Es ist Zeit für ein Neuanfang. Ich muss erstmal wieder selbst neu kennenlernen. Es fühlt sich so an, als wäre ich erst geboren und allein gelassen. Ich muss alles in der Vergangenheit lassen. Ich bleibe stehen und fahre mir durch die Haare. Kann ich den meine Vergangenheit einfach so vergessen? Ich schüttle mir den Kopf. Ich muss. Nichts darf mehr davon übrig bleiben. Ich muss alles vergessen. Ansonsten werde ich noch verrückt. Genug getrauert. Für keinen Mann auf dieser Welt mache ich mich kaputt. Ich bin stark. Auch wenn ich am Anfang die Fassung verloren habe. Unbewusst fahre ich mir über meine Hand, auf die eine große fette lila-rote Narbe verziert ist. Ich kneife meine Augen zusammen, da wir auf einen Blitzschlag die ganzen Erinnerungen hochkommen. Fest beiße ich auf meine Lippe. Mein Gehirn versucht mit mir zu spielen. Aber diese acht Monate waren nicht umsonst. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ich wieder daran denken muss. Diese Gedanken werden manipuliert. Ich manipuliere alles, was mit ihm zutun hat. Immer und immer mehr verblasst sein Gesicht in meinem Kopf. Irgendwann wird er an mir vorbei laufen und ich werde ihn nicht mehr erkennen. Ich muss ihn aus meinem Kopf löschen. Und ich werde es schaffen. Ich nähere mich meiner Nachbarschaft. Schnell ziehe ich meine Kapuze über, damit mich keiner erkennt. Zum Glück sind die Straßen leer um diese Uhrzeit. Ich sehe mein Haus. Mein Mundwinkel zuckt auf, als ich es erblicke. Ich bin wieder Zuhause. Mit ausgestreckten Armen renne ich los. Wie ein kleines Kind laufe ich auf die Haustür zu. Bald bin ich da. Ich muss nie wieder von meiner Familie getrennt sein. Nie wieder werde ich so einen Fehler begehen. Ich betätige die Klingel ununterbrochen. Endlich. Die Tür wird aufgemacht. Ohne hinzuschauen wer es ist, schmeiße ich mich auf die Person. Ich klammere mich wie ein Klammeräffchen an die Person und fange an aufzuschluchzen. Allein nur am Geruch erkenne ich die Person. Auch er fängt an zu weinen. Immer noch mit geschlossenen Augen flüstere ich ein „Ich bin wieder zurück." in sein Ohr. Er nickt nur, da seine Stimme brechen würde. Ich spüre wie er seine Hand auf meinem Hinterkopf ablegt und mich dort streichelt. Mein Herz beruhigt sich. Es wird immer langsamer. Ich blicke in die Augen meines Bruders. Dieses vertrauten braun-grünen Augen meines jüngeren Bruders. Er kam gar nicht mit der Situation klar. Für ihn war es nicht vorstellbar, dass sowas in unserer Familie passiert. Ich wische ihn mit meinem Daumen die Tränen weg. Aufmunternd lächle ich, damit er endlich versteht, dass alles wieder in Ordnung ist.

„Was ist denn hier los?", kommt meine Mutter augenreibend ins Flur und bleibt am Türrahmen stehen. Als sie realisiert, dass ich vor der Tür stehe, fängt sie an zu schreien. Sie fasst sich geschockt an die Brust und fällt auf ihre Knie. Sofort fängt sie an zu weinen. Ich eile zusammen mit Alian auf sie zu. Gerade will ich sie wieder hochziehen, doch sie zieht mich zu sich runter und hält mich fest.

„Soulayman, komm sofort! Deine Tochter ist zurück!", ruft meine Mutter durchs ganze Haus und ergreift mein Gesicht. Sie zieht mein Gesicht ganz nah an ihrs und verteilt haufenweise Küsse drauf. Erneut fange ich an zu weinen. Ich höre laute Schritte auf uns zukommen. Ardan erscheint in meinem Sichtfeld. Sofort erhellen seine hellbraun-grünen Augen. Fast schon mit einem verzweifelten Blick kommt er auf uns angerannt. Shirin rennt ihm hinterher und fängt schon an zu schluchzen. Beide stürzen sich auf mich und umklammern mich mit ihren Armen. Aus Shirins Augen kommen nur Tränen. Meine Schulter ist nass, die andere wird immer schwerer wegen Ardan. Beide sagen nichts, aber ich weiß wie sie sich fühlen. Selbst wenn Shirin was sagen wollen würde, keiner würde irgendwas verstehen.

„Was ist jetzt schon wieder-", die klaren Augen meines Vaters blicken direkt in meine grauen Augen.  Schüchtern lasse ich ein Lächeln über meine Lippen huschen. Ich weiß nicht, wieso ich gerade so aufgeregt bin. Aber es fühlt sich so anders an, wenn ich daran zurück denke, wie er sich gefühlt hat. Mit langsamen Schritten kommt er auf den Haufen, der sich Barwari Familie nennt, zu und händigt seine Hand rüber. Ich ergreife seine Hand mit meiner vernarbten und ziehe mich hoch. Er zieht mich näher zu sich, Tränen sammeln sich in meinen Augen.

„Alles ist in Ordnung.", spricht er ruhig und wischt mit seinem weichen Handrücken meine Träne weg. Er ergreift mein Gesicht und zieht es zu sich um mir einen Kuss auf meine Schläfe zu drücken. Liebevoll schaut er mir in die Augen.

„Du bist nicht sauer?", frage ich wie ein kleines Kind. Ich wusste nicht, wie ich als Elternteil reagiert hätte. Um die Augen meines Vaters legen sich Falten. Er schüttelt lachend den Kopf.

„Natürlich bin ich sauer.", kommt es hinter meinem Vater. Ich schaue über seine Schulter und erblicke meinen Zwilling. Seine Augen sind noch angeschwollen vom Schlafen, er lehnt seinen Kopf gegen die Wand. Die Frage war auch nicht an dich gerichtet, Dummkopf.

„Trotzdem will ich dich umarmen, Nurcan.", kommt es nachgebend von Diliyan. Er ergreift meinen Arm und schleudert mich weg von meiner Familie, zurück in seine Arme. Er drückt mich so fest gegen sich, dass ich es nicht mal schaffe meine Arme um ihn zu legen. Ich gebe nach und schmuse mich an ihn ran. Ach, wie ich meine Familie vermisst habe.

„Du bist sicher erschöpft, geh duschen. Ich mache solange Frühstück.", kommt meine Mutter wieder zu Wort, als sie sich wieder beruhigt hat. Ich nicke ihr zu und löse mich von meinem Zwilling Diliyan. Schon spüre ich dieses Gefühl, nicht mehr beschützt zu sein. Ich mache mich auf den Weg ins Bad und zieht mich dort aus. Die Tür öffnet sich, ich halte meinen Pullover an mich, damit keiner meine Narben sieht. Shirin kommt rein, um mir frische Wäsche zugeben. Ihre dunklen Augen wandern meine Arme runter. Sie sieht die Narben, die ich mir mit dem Aufkratzen zugefügt habe. Sie schaut runter auf meine Beine.

„Du bist dünn geworden. Zu dünn.", bringt sie wimmernd über ihre Lippen. Ihre Augen werden wieder glasig. Sie entreißt mir den Pullover aus der Hand und schaut auf meine Narben auf meinem Bauch. Gesenkt halte ich meinen Kopf. Mein Körper ist so hässlich. Voller Narben und deutlich dünner als zuvor. Sie packt meine Hand. Die große unebene Narbe auf meiner Hand reicht bis zum Handgelenk. Schluchzend verlässt sie eilig das Badezimmer. Ich weiß, Shirin, ich weiß.

Ich bin widerlich.




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