56. Perfekte Parallelwelt

Comenzar desde el principio
                                    

Manon schniefte leise. „Ob das wahr ist... keine Ahnung. Wirklich. Aber ich hatte gehofft, wieder eine Freundschaft mit ihr aufbauen zu können...", erzählte sie weiter, während ich ein Taschentuch aus meiner Hosentasche angelte und es ihr reichte. Sie nahm es stumm entgegen und drückte es sich ins Gesicht. Ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen und rückte näher, um einen Arm um ihren Rücken zu legen.

„Wenn es eines gab, was ich aus ihren Einträgen entnehmen konnte, dann war es, dass sie dringend jemanden gebraucht hat. Einen Freund, der ihr zuhört... seitdem Elaine, Julie, Sam, ich und sie getrennte Wege gegangen sind hat sie kaum neue Freunde gemacht. Und so gemein das auch klingt, es stimmt, dass sie mit so ziemlich 80% der Typen in unserem Jahrgang geschlafen hat. Sie wollte eine Lücke füllen, von der ich vorher nicht gesehen hatte, dass diese existierte..."

Ich konnte aus ihrer Stimme und aus ihren Worten heraushören, dass sie sich selbst die Schuld gab. „Du hast aber fast als Einzige schlussendlich doch noch den Versuch gestartet, dich mit ihr zu versöhnen. Und Julie war auch gerade dabei..." Keine Ahnung, was diese Worte bringen sollten. Ich merkte erst im Nachhinein, dass es vermutlich nur noch deprimierender war, dies zu realisieren. 

„Ja", stimmte Manon mir überraschender Weise zu. „Sie hat euch beide in dem Gespräch erwähnt. Wie sie nicht glauben konnte, dass Julie sich ihr wieder näherte, trotz Allem... und dass du in den vergangenen Wochen derjenige warst, der ihr geholfen hat, sich zusammenzureißen... Ich wusste damals nicht ganz, was sie damit meinte, aber vermute jetzt, dass sie sich zusammenreißen wollte, clean zu bleiben."

„Ich habe ihr geholfen?", fragte ich verwundert.

Manon lächelte doch tatsächlich leicht. „Ja, als du ihr in der Stadt ein offenes Ohr geboten hast. Das wird sie dir niemals vergessen."

Ich erinnerte mich und erschauderte leicht. Niemals hätte ich gedacht, dass ihr das so viel bedeuten könnte.

„Na, siehst du", brachte ich hervor. „Sie hatte Menschen in ihrem Leben, die sich um sie scherten und sie wusste es."

Diese Aussage bewirkte nicht ansatzweise das, was ich geplant hatte. Manon begann plötzlich zu schluchzen und hielt sich an mir fest. „Ja", hickste sie. „Aber viel zu spät. Entweder hat es nicht gereicht, um sie zu überzeugen, etwas achtsamer mit ihrem Leben umzugehen oder sie hatte schon mit einer Sucht zu kämpfen, die sich nicht mehr alleine überwältigen ließ. Was auch immer es ist, ich habe sie viel zu lange im Stich gelassen, sodass mein letzter armseliger Versuch nicht mehr genug war, ihr zu helfen..."

Ich hatte Manon noch nie vorher weinen gesehen und doch fühlte sich dieser Moment so vertraut an. Sie festzuhalten und weinen zu lassen, war genau das, was sie brauchte. Ich weiß nicht woher ich das wusste, aber ich hatte recht.

Wir ernteten zwar ein paar komische und bemitleidenden Blicke, aber keiner sagte etwas. Und Manon ließ alles raus, wobei ich glaube, dass ohnehin nicht mehr viel übrig geblieben war. Drei Taschentücher später und mit trockenem aber rot angelaufenem Gesicht sah sie mich an. Glücklicherweise war mein Hemd schwarz. Das alles störte mich aber gar nicht. Nichts an ihr störte mich in diesem Moment.

Ich war froh, sie halten zu dürfen. Manon streckte sich etwas und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Danke", murmelte sie gegen meine Haut.

Sich von mir lösend seufzte sie und strich sich durchs Haar. „In einer Parallelwelt sind wir perfekt für einander. Als eine Art Seelenverwandte. Du bist der Erste, der mich einfach weinen lässt, ohne mir meine Gefühle anders- oder ausreden zu wollen. Alles ist jetzt scheiße und so wird es nunmal für eine Weile bleiben. Aber du hast recht: Wir haben ihr Leben kurzweilig besser gemacht. Und das ist wichtiger als was nach ihrem Leben folgt."

Manon stand plötzlich auf und ich tat es ihr nach. Sie lächelte schwach und umarmte mich innig. Als sie sich von mir löste beugte ich mich runter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Erneut mit Tränen in den Augen, aber auch dem schönen Lächeln auf den Lippen, bedankte sie sich.

„Ich weiß, du bist nicht so der Typ... oder zumindest wirkst du nicht so. Aber bitte melde dich bei mir, wenn du dir mal die Seele leichter reden willst."

Nickend versicherte ich ihr, dies zu tun. Keine Ahnung, ob es stimmte. Aber als sie sich schließlich umdrehte und langsam von mir entfernte hatte ich ein ganz komisches Gefühl in der Brust.

Ich war erleichtert. Und dankbar. Und direkt danach traf mich die Scham. Manon war mehr als ich bisher gesehen hatte und es war scheiße, was passieren musste, damit wir so weit kamen. Aber das schnelle Klopfen in meiner Brust verriet mir eins: So einfach würde ich mich nicht mehr von ihr abwenden.

* * *

„Ich finde es gut, dass die Schule euch heute auch noch freigegeben hat", sagte Mum und räumte die Teller vom Tisch.

„Ja", seufzte Julie leise und starrte aus dem Fenster.

Mum sah mich besorgt an. „Carter, fährst du sie dann später zu Daniel?"

Ich nickte.

„Gut, danke."

Für unsere Eltern ging das Leben etwas eher weiter. Sie mussten diesen Freitag arbeiten, während wir noch bis Montag Zeit hatten, die Geschehnisse zu verdauen.  Danach gehts wieder weiter als wäre nichts gewesen.

Wobei, vielleicht stimmt das nicht so ganz. Es kursieren Gerüchte herum, dass demnächst Veranstaltungen stattfinden sollen. Zum Thema Depressionen sowie Drogenkonsum und Sucht. Eventuell kleine Selbsthilfegruppen mit einer verstärkten Anzahl an Schulpsychologen für Betroffene. Ich frage mich, wie lange die Show halten würde, bevor das Ganze totgeschwiegen wird.

„Bitte passt auf euch auf", sagte Mum und drückte uns beiden einen Kuss auf die Schläfe, bevor sie sich auf dem Weg zur Arbeit machte.

Julie starrte nun ihre halbgegessene Scheibe Toast an. Gestern Nacht hatte sie bei mir geschlafen. Davor die Nacht auf meiner Couch. Ich hatte den Eindruck, es wurde immer schlimmer, doch ich traute mich nicht sie abzuwimmeln. Manchmal kam Jake vorbei und nahm sie mir ab.

Es war schwer mitanzusehen, wie sie alle paar Stunden zwischen emotionslos und absoluter Katastrophe wechselte. Was half, waren ihre abendlichen Daniel-Besuche. Eigentlich waren Mum und Dad dagegen, dass sie jeden Abend mit ihm verbrachte, da die anderen Familienmitglieder im Haus schließlich auch trauerten, doch dann kam langsam immer mehr über die dysfunktionale Familieneinheit ans Licht. Hauptsächlich weil Julie ihre Besuche rechtfertigen wollte. Es klang zugegeben nicht so als hätte irgendein Kind in dem Haus die Unterstützung seiner Eltern, die es eigentlich verdiente.

Schweigend stand Jules auf und warf ihr Essen in den Müll. Den Teller ließ sie laut ins Spülbecken fallen, doch so wie sie zusammenzuckte war es vermutlich nicht absichtlich.

„Ich frage mich, ob seine Eltern geheimhalten werden, was genau passiert ist, wenn sie es endlich erfahren", dachte sie dann laut und sah mich nichtmal dabei an.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Das sprach ich aber nicht aus. Stattdessen sagte ich: „Wenn es zu einer Verhaftung kommen sollte, wird es bestimmt kein Geheimnis bleiben."

Keine Ahnung, ob die Aussage festen Boden hatte. Julie nickte jedoch, dieses Mal mich dabei ansehend.

„Ich gehe in mein Zimmer", seufzte sie dann. „Elaine wird mir schreiben, wenn sie abgelöst werden möchte. Ich glaube, sie kann das so langsam nicht mehr. Vielleicht kannst du sie ja nach Hause bringen."

Dazu sagte ich nichts, doch ich spürte mein Herz flattern, denn der Gedanke sie dort abzuladen und Elaine zu treffen erdrückte mich.

Seit ungefähr einer Woche hatten wir kein richtiges Wort miteinander ausgetauscht. Und jeden Tag machte mich der Moment, an dem wir wieder alleine sein würden, immer nervöser.

BorderlineDonde viven las historias. Descúbrelo ahora