56. Perfekte Parallelwelt

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Gestern habe ich sie nur kurz in der Kirche gesehen und danach nicht mehr. Amor war genauso verschwunden, also gehe ich davon aus, dass sie zusammen waren.

„Wen suchst du?", fragte Lucien als er bemerkte, dass ich meinen Blick fokussiert durch die Masse schweifen ließ. Ich räusperte mich kurz und versuchte neutral zu klingen: „Manon."

Er stockte mitten im schlürfenden Schluck und nickte dann langsam. „Ich habe sie zuletzt bei den Toiletten gesehen. Sie ging grad rein als ich gegenüber rauskam. Bestimmt ist sie noch dort."

„Hm", machte ich und stand auf. Über mein zerknittertes Hemd streichend sah ich mich ein letztes Mal um. „Ich lasse mal meine Sachen hier, ja?"

Er nickte. „Ich warte."

Schwerschluckend wandte ich mich ab und machte mich auf den Weg zu den Toiletten. Ich hatte sie schon im Blick, da verließ Manon sie bereits und lief los in die entgegengesetzte Richtung. Ich beeilte mich und holte sie ein.

„Hey...", behutsam fasste ich ihr an den Oberarm. Sie hielt überrascht inne und starrte mich kurz an als würde sie mich nicht wiedererkennen.

„Bitte keine Ansprache darüber, wie du sie auch vermisst und wie Gott seinen Engel wieder bei sich braucht...", nuschelte sie schwach und drückte mir plötzlich das emotionslose Gesicht in das Hemd. Ich verstand sie kaum, aber legte ihr eine Hand auf den Schopf und strich ihr behutsam übers Haar. Sie schmiegte sich enger an mich.

Wir verharrten so eine Minute mitten im Gang, bevor ich sie langsam zu einer ruhigeren Ecke führte. Manon strich sich übers Gesicht und ich muss sagen, sie sah echt fertig aus. Ihre Augen waren geschwollen, nein das ganze Gesicht, und ihre Haare achtlos weggesteckt. Ich traute mich kaum, zu sprechen, doch das übernahm sie schon für mich.

„Ich wollte mit dir reden, aber ich weiß nicht wann ich mich endlich bereit fühlen werde, deswegen bring ich es am besten jetzt hinter mich."

„Warte", ich ergriff ihre Hände. „Ich hole dir einen Stuhl."

Bevor sie etwas erwidern konnte, eilte ich in die Haupthalle und griff nach dem ersten Stuhl, den ich sah. Nichtmal eine Minute später stand ich wieder bei ihr.

Peinlich berührt bedankte sie sich. „Du hast ja keinen..."

„Egal."

„Nein, ich fühle mich komisch so. Ich hole dir einen."

Das brachte mich irgendwie zum lächeln und es steckte sie an. Es war ein trauriges Lächeln, aber es waren Emotionen.

„Warte kurz", sagte ich erneut und stand kurz danach wieder bei ihr, dieses Mal mit einem Stuhl für mich.

Zufriedengestellt setzte sie sich schräg von mir hin. Nah genug für eine Umarmung und weit genug, um sich in die Augen schauen zu können. „Danke, Carter." Sie legte kurz eine Hand auf mein Knie und schien zu zögern.

„Ich wollte mit dir reden", wiederholte sie. „Über Linda und ihr Tagebuch."

Reflexartig sah ich mich um, doch sie schüttelte nur den Kopf. „Nicht über den Inhalt. Nur darüber, dass ich sie darauf angesprochen habe... Ich weiß bis jetzt nicht, ob es das Richtige war." Ihre Augen wurden glasig. Als sie weitersprach zitterte ihre Unterlippe. Besorgt nahm ich ihre Hand und beugte mich vor, damit sie sich nicht zu sehr anstrengen müsste, laut zu sprechen.

„Ich habe ihr gesagt, dass sie recht hatte. Ich habe sie geliebt. Ihre selbstbewusste Art, die Leichtigkeit mit der sie alle Hürden im Leben zu überwältigen schien, ihre Einfühlsamkeit, alles... Ich wollte, dass sie sich gut fühlt, bevor ich ihr versicherte, dass diese Gefühle nicht mehr aktuell waren. Zumindest nicht in einem romantischen Kontext."

BorderlineWhere stories live. Discover now