#47 Hack hilft

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Perspektive Thomas "Tommi" Schmitt

20:43 Uhr
Eine Nacht im Fahrersitz des Autos auf dem Krankenhausparkplatz wartet auf mich. 
Ich habe mich aktiv dafür entschieden.
Selina ist nicht mitgekommen.
In ihrer Perplexheit habe ich nicht auf sie gewartet und bin auch nicht auf ihre Rufe eingegangen. Auch auf ihre Anrufe nicht.
Erschöpft schließe ich die Augen. Die zwei identischen, grauen, hoch in den Himmel ragenden Gebäudeteile des Vivantes bereiten mir Angst, geben mir ein Gefühl der Enge.
Visuell kann ich meinem Umfeld damit zwar entfliehen- die Menschen, die rastlos zu ihren Autos und von ihnen weg laufen, die Schwestern und Pfleger, die kranke Patienten in Rollstühlen über die Wiese fahren oder sie beim Laufen stützen, dann stehen bleiben, um das Wasser zu beobachten. Die Krankenwagen, deren schallende Signaltöne minütlich die anhaltende Stille zerreißen und jedem Anwesenden zu verstehen geben, dass in diesen Minuten erneut um ein Leben gekämpft wird.

Die meisten Menschen, die sich in meiner Umgebung befinden, sind diese Kulisse gewohnt. Entweder arbeiten sie hier und überhören die ohrenbetäubende Geräusche schon beinahe. Oder es gehört zu ihrer Routine, Angehörige oder Freunde zu besuchen und den Kaffeeautomaten als größten Verbündeten zu bezeichnen.
Für mich hingegen ist das neu. Die Laute machen mir Angst, die Gesichtsausdrücke der Menschen sind erschreckend traurig, die Aura des Ortes löst nichts positives in mir aus. 
Trotzdem bin ich hier, hier im Auto.
Es ist kalt, nicht wärmer als draußen, der Motor ist aus, die Standheizung kaputt, hier im Auto.
Meine Gedanken befinden sich auf einer rasanten Reise zwischen Felix, nur wenige Meter von mir entfernt in irgendeinem monton eingerichteten Zimmer und Selina, mehrere hundert Kilometer entfernt in der Wohnung, vielleicht.
Ich habe beide allein gelassen, beide verlassen. 
Felix weiß nicht, dass ich hier bin, unten im Auto.
Selina weiß, dass ich hier bin, unten im Auto.
Ich weiß nicht, wo Selina ist. Vielleicht auch im Auto.
Ich habe selbst erst nicht realisiert, wo ich bin. Wo ich die letzten Stunden war. Hier, im Auto.
Die Lichter und Schilder auf der Autobahn sind an mir vorbeigezogen, als wäre ich permanent durch einen Tunnel gefahren. So, wie es oft beschrieben wird. Und auch so, wie ich es nie glaubte und als überspitzt empfunden habe. 
Manchmal muss man das Unfassbare erlebt haben, um es zu glauben. 
Das Treiben um mich herum nimmt trotz der zunehmenden Uhrzeit nicht ab und ich frage mich, wann die Menschen damit aufhören. 
Wann sie aufhören, zu arbeiten, zu rennen, zu wuseln, zu humpeln und zu rollen. Wann sie müde werden und sich hinlegen. In ein Bett, was vielleicht nicht bequem ist. Aber zumindest ein Bett. Wann schlafen sie? Wann schlafe ich? Auf meinem Autositz?

Mein Magen knurrt.
Ich muss gähnen.
Mein Kopf dröhnt und hämmert, die Gedanken haben noch keine Rast eingelegt 
Meine Augen fallen zu, ohne, dass ich etwas dagegen tun kann.
Die Geräuschkulisse um mich herum flacht nicht ab, dringt immernoch durch das Auto hindurch, wird aber dumpfer.
Dumpfer, stumpfer, schwammiger, unklarer, undeutlicher, verschwommen.

2 Januar 2020, 9:47 Uhr

"Tommi? Tommi?!"
Es klopft in meinem Kopf.
"Tommi!"
Nein, nicht in meinem Kopf.
Ich öffne die Augen, drehe meinen Kopf zu der Seite aus der ich das Hämmern vermute.
Durch die beschlagene Seitenscheibe sehe ich zwei dunkle Augen, eine Nase und braune Haare in mein Auto lugen. 
Erst bin ich erschrocken, mein Gehirn schaltet auf Konzentrationsmodus, bis ich erkenne, wer mich da geweckt hat: Julian.
Erleichtert lasse ich die Scheiber herunter; sie stockt kurz. Der Grund dafür zieht nur eine Sekunde später mit hoher Geschwindigkeit in den Innenraum meines Autos und lässt mich frösteln: es ist arschkalt.
"Julian?" frage ich, während er gleichzeitig entgeistert "Tommi?" ruft, wobei seine Verwunderung über meine Anwesenheit berechtigter als meine ist.
Das "Was machst du denn hier?" erspare ich mir- das kommt nämlich schon von seiner Seite.
"Komm' erstmal rein." sage ich und komme mir komisch dabei vor. Immerhin spreche ich von einem Auto, in welchem ich die letzte Nacht geschlafen habe. Dass ich es entriegeln muss, dass er einsteigen kann, fällt mir erst auf seinen verzweifelten Versuch hin, die Beifahrertür zu öffnen, ein.

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