#120 Wütende Bosnier

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Diego interessiert sich nur wenig für sein Futter, während die beiden über die Scheidung von Tommis Eltern sprechen.
Der Hund lässt den Detmolder nicht aus den Augen, ist die ganze Zeit bei ihm und bewacht ihn, schleicht um seine Beine oder legt sich auf seine Füße. Als müsse er ihn vor irgendetwas beschützen.

Auch seine Mutter bemerkt das und schaut Tommi ernst an. "Thomas, ich kenne Diego, ich kenne dich und Diego kennt dich. Warum ist er so?"
"Ich glaube, das ist einfach nur, weil wir uns lange nicht gesehen haben." versucht Tommi zu rechtfertigen und krault den Hund, der neben seinem Stuhl sitzt und zu ihm aufschaut.
Ihre Mutter seufzt und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse.

"Und was ist mit Selina? Wo ist sie? Warum ist sie nicht mit?" will sie dann wissen und schaut erwartungsvoll. Dass sie mit dieser Frage direkt ins Schwarze trifft, hätten sie und Tommi nicht erwartet. Er schluckt, dann läuft eine Träne über seine Wange.
"Ach, Tommilein. Ich wusste doch ganz genau von Anfang an, das irgendetwas nicht stimmt."
Sie nimmt seine Hände in ihre.
"Erzähl mal. Ganz in Ruhe. Von Anfang an und in der Reihenfolge." sagt sie mit ruhiger Stimme.

Während Tommi, von mehreren Heulkrämpfen unterbrochen, geschüttelt von der Realität, die ganze Geschichte mit Selina und Felix erzählt, streichelt seine Mutter liebevoll über seine Hände. Nicht so, dass sie immer nur an einer Stelle bleibt und das dann so unangenehm ist, bis es irgendwann taub wird. Sie variiert und wenn man sich ganz stark konzentriert, könnte man meinen, sie malt unterbewusst einzelne Wörter, die er sagt, auf Tommis Hand. Auch Diego weicht während der gesamten Zeit nicht von seiner Seite. Das beruhigt ihn.

"Ach, Tommi." sagt sie, als er fertig ist und gibt ihm das letzte Taschentuch aus der Packung, die auf dem Küchentisch lag. Dankend nimmt er es an, wischt sich damit die letzten dicken Tränen aus dem Gesicht und muss dann doch irgendwie lachen. Es ist so ein Lachen nach vielem Weinen, das trotzdem verdammt schön aussieht.
"Erstmal bin ich froh, dass du es mir jetzt erzählt hast. Mit Selina und Felix und all dem."
Der Name des ihr fremden Mannes, den ihr Sohn seinen festen Freund nennt, ist im Laufe des Gesprächs so oft und in so vielen verschiedenen Tonlagen und Kontexten gefallen, dass sie ihn sich ziemlich leicht merken kann. Bei den anderen Freundinnen von Tommi hatte sie immer ewig gebraucht und oft nachfragen müssen, bis sie die Damen endlich sicher mit den richtigen Namen ansprechen konnte. Ihre Söhne hatten schon immer einen bestimmten Typ Frau und die ein- und ausgehenden Partnerinnen entsprachen einem Beuteschema und waren sich deshalb auch oft sehr ähnlich. Dieser Felix scheint aber irgendwie anders zu sein.

"Ich bin aber der Meinung, dass du ihn anrufen solltest. Ich hatte schon genug Beziehungen in meinem Leben, um dir den weisen Ratschlag geben zu können, dass eine plötzliche Beziehungspause auch zu lange dauern kann und man sich zu weit auseinanderentwickelt, um jemals wieder auf den gemeinsamen Nenner zu kommen wie vorher." sagt sie ruhig und schaut ihrem Sohn in die Augen.
Dieser schluckt und sieht ein, dass sie wahrscheinlich Recht hat.
Er will und kann auf keinen Fall zulassen, dass er und Felix einander fremd werden. Dafür ist er ihm einfach viel zu wichtig.

"Du hast Recht. Aber ich werde ihn nicht anrufen. Das kann ich glaube ich noch nicht. Wir haben immer nur telefoniert, wenn wir weit weg voneinander entfernt waren. Zum Glück ist gerade Podcastpause. Ich könnte das sonst glaube ich gar nicht. Da müssten wir sagen, dass einer von uns beiden irgendwie so krank ist, dass er nicht einmal aufnehmen kann. Irgendwas mit der Stimme oder so." denkt Tommi laut und fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Mutter beobachtet ihn wertungsfrei.

"Kann ich noch ein bisschen mit Diego spielen?"
"Na klar. Er wird dir schon zeigen, wo sein Spielzeug verstaut ist."
Tommi steht im Türrahmen, während seine Mutter noch die Kaffeetassen wegräumt. Sie hält kurz inne, schaut ihrem Sohn in die Augen und lächelt ihn an. Dann kann sie nicht anders.
"Komm mal her." sagt sie und sie gehen die wenigen Schritte aufeinander zu. Erneut ziehen sie sich in eine innige Umarmung, Tommis Mutter legt eine Hand an seinen Hinterkopf und hält ihn fest. "Ich bin so stolz auf dich, Großer."
"Danke, Mama." sagt Tommi ehrlich und lächelt sie an, seit sie sich wieder gelöst haben.
Mit einer halben Träne im Auge, die sie sich vorsichtshalber wegwischt, gibt sie ihm einen festen Kuss auf die Stirn. Dazu muss sie sich auf die Fußspitzen stellen, weil er mittlerweile so viel größer geworden ist als sie selbst.

Mitten im Hundegetobe zwischen Quietschebällen und Kauknochen fasst Tommi schlagartig den Entschluss, Felix zu schreiben. Um den Hauch von Motivation zu nutzen, wirft er einen Ball ans andere Ende des Zimmers und holt sein Handy aus der Hosentasche. Bevor er überhaupt den ersten Buchstaben getippt hat, ist Diego schon wieder da und fordert Aufmerksamkeit von Tommi.
"Warte mal kurz, Großer." sagt er, legt den rechten Arm liebevoll um den Hund, drückt ihn sanft an sich und tippt mit der linken Hand. Multitaskingfähig ist er leider immer noch nicht, also entweder spielen oder schreiben. Dann doch lieber erst einmal schreiben.

<<komm bitte so schnell es geht in die Ölbenz-Straße 37 in Detmold.>>

Felix hat absolut keine Ahnung, was er da will oder was da ist oder warum. Google Maps sagt vier Stunden. Also fährt er sofort los, wie er auch die Nachricht sofort gelesen hat.
Aber mit welchem Auto? Seines wurde ja von Tommi geklaut. Also fragt er Julian.
"Du willst zu dem Spinner auch noch hinfahren? Nicht mit meinem Auto. Das sehe ich doch dann die nächsten Monate nicht wieder. Nee, sorry."
"Als sei er ein Pole..." murmelt Felix leise vor sich hin. Im Kopf geht er bereits die Nummern der Autovermieter in seiner Kontaktliste durch. Nach seinem neuen Plan muss halt einer von denen und sein Portemonnaie herhalten. Finanziell haben Tommi und er ja aber eh noch eine Kleinigkeit zu klären.

"Mama? Ich geh mit Diego Gassi." ruft Tommi aus der Diele, als von Felix die Nachricht <<10 min>> kommt.
Er läuft die wenigen Straßen weiter, um etwas eher an der angegebenen Adresse zu sein als Felix. Er wollte sich mit ihm nicht direkt vor den Fenstern seiner Mutter treffen. Zur Ablenkung und Zeitüberbrückung übt er mit Diego Kunststücke und Kommandos, die er ihm vor vielen Jahren schon beigebracht hat und die überraschenderweise immer noch funktionieren.
Einige Minuten später fährt ein silbergrauer Mercedes mit dem Schriftzug "Starcar Autovermietung" vor und parkt elegant in die nächste Parklücke auf der anderen Straßenseite ein.

Tommi beobachtet das Auto und hat den Ansatz eines Lächelns auf den Lippen. Diego bellt ihn an. "Ganz ruhig, Großer. Das ist Felix. Der ist nicht böse, du musst nicht gleich werden wie wütende Bosnier." sagt er, gibt ihm das Sitz-Kommando und streicht über seinen Kopf.

"Hi."
"Hi."
sagen sie, als Felix auf Tommis Straßenseite angekommen ist und das Auto per Fernbedienung verriegelt hat, was es mit einem dumpfen Klicken bestätigt. Ein verwahrlostes Blatt weht an ihren Füßen vorbei, Diego schat ihm kurz hinterher.
Die beiden Männer stehen sich gegenüber als wären sie die Partner von zwei besten Freundinnen, die auf Toilette verschwunden sind. Felix schiebt die Hände in die Hosentasche und es entsteht ein komischer Moment der Stille. Sie wissen nicht wirklich, wie sie sich begrüßen sollen. Das ist ihr erster Streit. Sonst sind sie immer übereinander hergefallen, wenn sie sich wiedergesehen haben. Sollen sie sich küssen? Sich umarmen? Ein Handschlag? Oder ganz formell die Hände geben?

"Äh, das ist übrigens Diego." bricht Tommi die Stille und ist froh, dass der Hund in diesem Moment zu dem für ihn fremden Mann aufschaut und eine Grimasse zieht.
"Hallo Diego." sagt er neutral. Mit Hunden konnte er ja noch nie so richtig etwas anfangen.
"Ähm, wollen wir ein Stück gehen? In der Nähe ist ein Feld. Da können wir...reden." schlägt Tommi vor. Felix nickt zustimmend. Er hat kurz den Reflex, seine Hand zu nehmen, weil er das so vermisst. Im letzten Moment machen beide aber doch einen Rückzieher. Wohin auch immer die nächsten Minuten sie führen mögen.

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