#40 England abschaffen!

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Perspektive Felix Manuel Lobrecht 

"Willst du den Pulli nicht lieber ausziehen? Das scheuert doch bestimmt."
Nein. Nicht jetzt, Selina.
Du legst ihn hier jetzt nicht flach. Er trägt kein T-Shirt darunter.
Zu meinem Glück verneint Tommi ihr Angebot mit einem Kopfschütteln.
"Nee. Aber ich wollte mit dir nochmal reden."
Erneut überrascht, aber aufgeschlossen nickt sie und schaut unsicher zu mir.
"Mit ihm oder ohne ihn?"
Die abwertende Weise, auf die sie die Wörter, die sich auf mich beziehen, betont, reicht mir eigentlich, um freiwillig den Raum zu verlassen.
"Felix weiß Bescheid." erwidert Tommi und mir fällt spontan nur eine Sache ein, über die er mit ihr reden wollen würde, um von seinem Hals abzulenken:
die Trennung seiner Eltern.

Ein erwarteter Dialog beginnt:
"Erstmal wollte ich mich entschuldigen, dass ich den einen Tag mal so scheiße drauf war."
Sie nickt und lächelt leicht.
"Warum das so war, hab' ich dir ja dann gesagt: meine Eltern haben sich getrennt und ich bin erst absolut nicht damit zurechtgekommen."

Wieder nickt sie, ihre Augen werden größer und ihr Blick trifft mich, als gäbe sie mir die Schuld daran.
Ich versuche, ein standhaftes Pokerface zu halten, welches nicht herausblitzen lässt, wie unglaublich sehr sie mich gerade nervt.

"Ich hab' mich durch einige Blogs und Ratgeber und so gelesen, weil ich die Situation selbst ja gar nicht kenne und dir helfen wollte." richtet sie sich wieder an ihren Freund und setzt einen mitleidigen Hundeblick auf.

"Danke. Brauchst du aber gar nicht. Wenn ich dir einfach immer erzählen kann, wenn mich etwas in diese Richtung belastet oder du zu Treffen mitkommen könntest, reicht das schon." winkt Tommi ab, lächelt ein Lächeln, das ich nicht deuten kann und werde noch eifersüchtiger.
Darauf, dass er das von mir nie verlangt hat.
Klingt komisch, aber ich würde es genauso gern für ihn tun.
"Hast du denn nochmal mit ihnen gemeinsam gesprochen?" will Selina wissen.
Ich könnte es ihr beantworten.
"Nein. Nur geschrieben. Und auch nur separat."
"Wir können ja im neuen Jahr uns mal mit ihnen treffen. Vorher alles ausmachen. Auch, wenn sie sich nicht umstimmen lassen. Darüber reden bringt aber bestimmt troztdem etwas. Auch für dein Verständnis."

Lächelnd streichelt sie über seinen Arm; Tommis Gesichtsausdruck bleibt unverändert.
"Können wir tun." gibt er als einzige Antwort zurück und setzt sich mir gegenüber.
Dass sie die ganze Zeit standen, hat mir sowieso eine unangenehme innere Unruhe bereitet.
Selina nimmt mit einem Stuhl Abstand neben mir Platz und greift nach Tommis Händen, um sie festzuhalten.
"Felix, wie sieht's bei deinen Eltern eigentlich aus? Sind sie verheiratet?" fragt sie.
Willkommen im Fettnäppchen, Selina. Schön ölig hier, oder?

""Bis dass der Tod uns scheidet". Zitat Ende." antworte ich knapp und lächle abgeklärt. Dass damit alles gesagt ist und es ihr auf die Sprünge geholfen hat, hoffe ich inständig.
"Wie kam es eigentlich dazu?" lenkt Selina wieder das Thema auf Tommis Situation.
"Fremdgehen? Auseinanderleben? Geld? Du und dein Bruder?"
Tommi nickt leicht. Teilweise schüttelt er auch den Kopf.

"Geld nicht. Mein Vater war immer wieder in England. Schon seit wir ausgezogen sind. Erst beruflich. Später hat er immer noch Urlaub drangehangen. Dann irgendwann ist er manchmal mehrere Monate am Stück einfach so dort gewesen.
Was genau er gemacht hat, wissen wir alle nicht. Mama durfte auch nie mit. Irgendwann hat ihr das jetzt halt gereicht, was nachvollziehbar ist.
Sie wusste nie, was los ist oder warum. Ob es an ihr liegt oder nicht. Viel darüber gesprochen haben wir auch zu zweit nicht. In seinen England-Phasen kam niemand an unseren Vater mehr ran. Auch Stefan nicht, obwohl sie immer guten Draht hatten. Scheiß Großbritannien. Wir sind uns aber ziemlich sicher, dass er da Eine kennengelernt und schon ein Haus mit ihr hat. Womöglich habe ich noch Halbgeschwister, von denen ich Nichts weiß."

Tommi löst seine Hände von Selinas und fährt sich durchs Gesicht. Ein Seufzer verlässt seinen Mund.
"Hey Schatz. Es bringt Nichts, nur Mutmaßungen anzustellen. Wir finden eine Möglichkeit, das alles zu klären. Glaub mir. Ich helfe dir."

"Ich auch." denke ich mir, spreche es aber nicht aus. Ich will Selina ja nicht in der Auslebung ihrer Helfer-Syndrom-Rolle unterbrechen.
"England abschaffen!" fordere ich rückwirkend in Gedanken.

"Wollen wir irgendwie etwas Kleines essen gehen? Kuchen oder so?." versucht sie, abzulenken und geht anscheinend davon aus, dass ich Nichts zu Hause habe. Was auch stimmt, trotzdem finde ich es frech.
"Nee, ich will Nichts essen. Kein Hunger." gibt Tommi tonlos zurück und mir fällt erneut negativ auf, wie er reagiert, wenn es um Essen geht.
Ich hoffe, dass mein nächster Satz die Frau gegenüber von mir nicht allzu wütend macht: "Kann ich mal kurz mit Tommi allein reden?".

Mein aufdringlicher, direkter Blick verstärkt meine Intention- sie nickt und erhebt sich erstaunlicherweise. Dass das die Klammeraffenfrau zulässt, hätte ich nicht gedacht. Ich könnte mit ihrem geliebten Tommi ja sonst was anstellen.

"Ich geh kurz raus, Eine rauchen."
Danke Selina. In doppelter Hinsicht. Einmal ironisch und einmal ernst.
Tommi schaut ihr kurz verdutzt hinterher und scheint sich über ihre Aussage zu wundern.
Ob sie normalerweise raucht oder nicht, ist mir ziemlich egal.

"Tommi, alter." ergreife ich das Wort und es fühlt sich an, als platzten damit alle angestauten Bedürfnisse, etwas zu sagen, aus mir heraus.
Fragend und beinahe unschuldig sieht er mich an und jetzt greife ich nach seinen Händen, um sie festzuhalten. Sie sind schwitzig.
"Ich merk' doch schon die ganze Zeit, dass du voll wenig isst. Da kannst du dich nicht rausreden. Was ist los?"
Mein Daumen streichelt über seinen Handrücken und ich warte geduldig auf eine Antwort.

"Und ich bin mir ziemlich sicher, dass du Hunger hast, man. Tommi, ick kenn' dich schon 'n Stück. Kuchen geht bei dir immer.". Ich versuche, meinem Gesagten Nachdruck zu verleihen, doch der Größere zieht seine Hände aus Meinen und fährt sich über das Gesicht, vergräbt es darin.

"Es ist deswegen." bringt er nach einigen stillen Sekunden heraus. Einen weiteren Hinweis bekomme ich vorerst nicht.
Was sein "deswegen" bedeutet, kann ich mir aber denken: seine Eltern.
"Es geht mir ja auch nicht um Kuchen oder Zucker. Ich kann einfach nicht mehr essen, weil ich die ganze Zeit unweigerlich an die beiden denken muss. Als Kinder und Jugendliche waren wir voll oft in allen möglichen Restaurants essen. Da hab ich auch immer alles gegessen und meine Liebe für Kuchen entwickelt. Aber egal, an welches Gericht ich denke- immer ist das Bild im Kopf da, wie wir alle gut gekleidet an einem dunklen Holztisch sitzen und Spaß haben. Vor Allem Mama und Papa. Wenn wir essen waren, haben sie nie gestritten. Nie. Und wir waren wie gesagt oft essen. Und ich hab's versucht mit der Suppe. Aber jedes Mal bin ich einfach nur noch trauriger geworden.
Jeder Löffel hat mich daran erinnert, wie toll es damals war. Und wie toll es jetzt nie mehr sein wird.". bricht es aus Tommi heraus.

Einfach schon das vierzigste Kapitel- sick, oder?
Knv!

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now