#119 Lieblos-Effekt

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"Also, Herr Schmitt. Sie haben herausgefunden, dass sie nicht heterosexuell sind, sind mit einem Arbeitskollegen von Ihnen zusammen, Ihre Eltern haben sich im Streit getrennt. Zu Ihrem Vater haben Sie nach Ihrem Coming Out keinen Kontakt mehr, Ihre Mutter weiß noch gar nichts von Ihrem neuen Liebesglück, mit Ihrem Freund sind sie zerstritten. Ihre einzige nachstehende Kontaktperson ist zur Zeit ihr Bruder, richtig?"

Tommi nickt in seine Laptopkamera. "Ja, so stimmt das."
"Wenn sie die Wahl hätten, mit wem Sie als nächstes reden würden, wen von Felix, ihrem Bruder oder ihrer Mutter würden Sie als erstes kontaktieren?"
Der Wuschelkopf überlegt.
"Instinktiv, Herr Schmitt. Wer fällt Ihnen als erstes ein?"
"Meine Mutter. Ja, meine Mutter. Eigentlich verdient sie, das alles zu erfahren und mit Ihrem Sohn wieder mehr Kontakt zu haben. Wir hatten so ein gutes Verhältnis und ich bezweifle, dass es ihr nach der Scheidung von meinem Vater gut geht."
Herr Rater nickt.

"Es ist gut, wenn Sie sich jetzt für Ihre Mutter aus dem Bauch heraus entschieden haben. Da Sie nun länger keinen Kontakt zu ihr hatten, möchte ich Sie auf das folgende psychologische Phänomen aufmerksam machen: Der Lieblos-Effekt.
Sie haben aufgrund der engen Verwandtschaft eine unzerstörbare, zutiefst verankerte innere Bindung zu Ihrer Mutter. Jedoch kann eine gewisse Entfremdung durch zum Beispiel enorme örtliche oder emotionale Distanz auftreten. Bei Ihnen ist beides der Fall. Baut sich dann- entweder plötzlich oder sukzessive- erneut Kontakt auf, kann es Ihnen so erscheinen, als würden Sie einen inneren Zwang spüren, sich mit Ihrer Mutter zu verstehen, obwohl Sie laut Ihrem Gefühl nichts oder nichts mehr miteinander verbindet. Das ist völlig normal und in der Wissenschaft des Menschen logisch begründet. Allerdings kann dieses Verhalten der Lieblosigkeit mit der Zeit und dem permanent gehaltenen Kontakt- örtlich und oder emotional- in sich wieder aufbauender tiefer Bindung resultieren. Auch, wenn Sie keinen ersichtlichen Grund dafür sehen. Die Veranlagung dafür liegt in der Verwandtschaft, wie ich Eingangs erklärte. Seien Sie sich dieses Effektes bewusst und nutzen ihn womöglich für Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie stehen vor einer großen Aufgabe, jedoch bin ich davon überzeugt, dass Sie diese meistern werden."

Der Therapeut legt eine Sprechpause ein, seine Mimik und Gestik spricht dafür, dass jetzt Zeit für Tommi ist, um darüber nachzudenken.
"Fühlen Sie sich dieser Aufgabe gewachsen, ihre Mutter nach den vergangen Monaten zu kontaktieren und sich bei Ihr zu outen?"
Tommi nickt.
"Dann tun Sie das. Welche Kontaktmöglichkeit würden sie bevorzugen? Anrufen? Schreiben? Vorbeifahren?"
"Vorbeifahren." verkündet Tommi und geht in Gedanken seine nächsten Schritte durch: Laptop herunterfahren, Portemonnaie aufspüren, genaue Route heraussuchen, Auto starten.

Glücklicherweise benötigt Tommi keine zwei Stunden von seinem aktuellen Standort nach Detmold zur neuen Adresse seiner Mutter, die Max ihm geschickt hatte.

Felix hat Post. Viel Post. Schriftlich, analog, auf Papier, im Briefumschlag, im Briefkasten. Diesen öffnet er heute seit vielen Wochen das erste Mal und zu seiner Überraschung quillt er über. Scheiße. Motivationslos steigt er die unzähligen Treppen mit den unzähligen Briefen hinauf und lässt sie in seiner Wohnung auf den nächstbesten Tisch fallen. Eigentlich möchte er sie ignorieren, weil allein das Leeren ihn genug Energie gekostet hat, um die nächsten Tage wieder nur irgendwo zu liegen. Dann jedoch springt ihm ein handelsüblicher Brief von der Bußgeldstelle ins Auge. Er ist ewig kein Auto mehr gefahren, weil er ewig nicht draußen, geschweige denn weiter weg unterwegs war. Seine letzten Geschwindigkeitsüberschreitungen hat er alle schon bezahlt.
Ergriffen von einem Hauch Emotion, einer undefinierbaren Mischung aus Erwartung, Hoffnung und Verwunderung, öffnet er den Brief und nimmt das akkurat zusammengefaltete Papier heraus.
Ihm entgegen blickt ein schwarz-weiß Foto von Tommi. In seinem Auto, auf dem Fahrersitz. Die Qualität ist gerade so gut, dass er ihn von seinem Bruder unterscheiden kann. Die Haare geben den ausschlaggebenden Hinweis. "Was zum..." sagt Felix leise vor sich hin und blitzartig wird ihm klar, was passiert ist.
<<spinnst du?!>> schreibt Felix Tommi und schickt ein Bild vom Bußgeldbescheid dazu. Der erste Kontakt seit Längerem. Einerseits fühlt es sich komisch an, andererseits hat Felix das Bedürfnis, ihm seine Laune mitzuteilen.

In Tommis Hosentasche vibriert es, als er Felix' Auto vor der neuen Wohnung seiner Mutter parkt. Anscheinend hat sie den alten WLAN-Router mitgenommen und sein Handy sich nun automatisch damit verbunden. Jetzt prasseln die Nachrichten der vergangenen Stunden ein, die von Tommi aber gekonnt ignoriert werden. Er schaut nicht einmal nach, wer ihn kontaktiert hat oder warum.
Vielmehr konzentriert er sich darauf, wie er nun seiner Mutter gegenübertreten soll. Sie weiß immer noch nichts von seinem Besuch, aber je länger er hier draußen in seinem Auto wartet, desto schlimmer wird es. Also steigt er aus, streicht seinen Pullover zurecht und klingelt.

Von hinter der Tür dringt ein Bellen zu ihm nach draußen. Er scheint ihn erkannt zu haben. Erst danach ertönt die Stimme von Tommis Mutter, die den Hund besänftigt und fragt, was los sei. Sie öffnet die Tür, ist noch mit den Gedanken und dem Blick beim Hund und sieht ihren Sohn erst verzögert.
"Thomas!" ruft sie erstaunt.
"Was machst du denn hier, komm rein!" sagt sie grinsend und zieht ihn in eine herzliche Umarmung.
"Alles gut?" will sie wissen.
"Ja, Mama." antwortet er.
Sie würde gerne einen Kommentar zu seiner körperlichen Verfassung abgeben, schluckt diesen aber doch hinunter.
Diego springt an Tommis Beinen hoch und zieht Runden mit seinem Körper ganz nah an ihn gedrängt, bis sich Tommi löst und ihm Zuwendung schenkt.
"Hallo, Großer." sagt er liebevoll, kniet sich hin und lässt sich von seinem Lieblingshund bespringen. "Ich hab' dich vermisst, Tiger." fügt er hinzu und krault ihn liebevoll.
Hinter ihnen schließt ihre Mutter die Tür.

"Willst du 'nen Kaffee?" bietet sie an, Tommi nickt abwesend. Sie bekommt das mit. Während er neben seinem Hund hockt, der sich auf dem Rücken liegend der Bauch streicheln lässt, starrt er auf den Boden.
Seine Mutter verschwindet in die Küche, kurze Zeit später hört man die Kaffeemaschine rattern. Tommi genießt die Zeit mit seinem Hund und legt sich spontan neben ihn und legt einen Arm sanft um das Tier. Sie schließen die Augen und hören auf das Atmen des Anderen. Das haben beide vermisst.

"Kommt ihr zwei?" ruft Tommis Mutter und tritt wieder in den Flur.
Diego reagiert blitzschnell, indem er sich wieder aufrichtet. Tommi ruft "Gleich!", bemerkt gar nicht, dass seine Mutter hinter ihm steht und benötigt einige Sekunden.
"Tommi, was ist los? Das habt ihr früher immer nur gemacht, wenn er gespürt hat, dass es dir nicht gut ging. Und mit seiner Einschätzung lag er nie falsch."
"Nichts, Mama. Alles ist gut." lügt er steht mit bedröppeltem Blick auf. Nicht mit Absicht. Vor seiner Mutter hat sich nur schon immer seine wahre Gemütslage gezeigt, auch ohne es zuzugeben.

"Setz dich." fordert sie ihn auf und lächelt, während sie zwei Tassen Kaffee auf einen Tisch stellt und Diego eine Schüssel Futter vollmacht.
"Danke." sagt Tommi und schaut sich in dem Raum um, in dem er gerade zum ersten Mal ist. Er ist ein komisches Gefühl, wenn das zu Hause seiner Mutter ein so fremder Ort für ihn ist.
"Ja, ist ziemlich spärlich eingerichtet. Deko war ja noch nie so meins. Und hier, in meiner eigenen kleinen Wohnung, sehe ich auf meine alten Tage keinen Sinn mehr darin, irgendetwas überaus wohnlich einzurichten. Das habe ich eh immer nur für deinen Vater und euch beide gemacht. Tut mir leid." sagt sie und lächelt gequält.
"Ach, Mutter, hör doch auf. Ich finde es schön so, wie es jetzt ist." erwidert er und legt eine Hand auf ihren Arm.

Tommi nimmt einen Schluck aus seiner Tasse und muss sich an den Habitus, dass er als Sohn jetzt seiner Mutter mit Rat zur Seite steht, gewöhnen. Obwohl er selbst eigene Probleme hat, die er aber wieder einmal zurückstellt.

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