#87 Wir raschen euch über

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Es ist nicht meine Oma oder Großtante, die hier liegt. Es ist meine Mutter.
Ich weiß das, trotzdem tut der Gedanke jedes Mal erneut weh.
Mein Opa liegt noch neben ihr. Opa Eberhardt, ein guter Mann. Musste seine Tochter viele Jahre vor ihm sterben sehen.
Ich schniefe und atme tief ein. Tommi, dessen Arm auf meinem Rücken ruht, weiß, was das bedeutet.
Gemächlich stehen wir auf, ich sehe mich kurz um und ergreife dann seine Hand, verschränke unsere Finger.
Auf dem Weg zum Parkplatz stelle ich eine vom Wind umgestoßene Grabkerze wieder auf und hebe diversen Plastikmüll auf.  Diesen entsorge ich in einer Mülltonne am Friedhofsausgang.

Zum Glück haben wir Tommi als berechtigten Fahrer für meinen Wagen eingetragen, da ich mich gerade nicht in der Lage fühle, mit mehr als 100 Sachen über eine Autobahn zu schießen.
Viel mehr bin ich damit beschäftigt, weiter in Gedanken zu versinken. Manchmal fange ich aus dem Nichts an zu sprechen, zu erzählen, laut zu denken. Ich schätze sehr wert, dass Tommi das aushält.

"Bis ich sieben war stand da immer noch ein extra Stuhl in der Küche, auf dem nie jemand saß." beginne ich abwesend, während ich meinen rechten Ellbogen in die Beifahrertür stütze und aus dem Fenster starre.
"Auch sie saß in dieser Wohnung nie da, als sie noch...da war. Nur in der Alten. Da hat sie immer auf diesem Stuhl gesessen. Wir haben ihn mitgenommen. Aber dann war sie auf einmal nicht mehr da, der Stuhl schon. Ich hab' den vor dem Essen immer drei Minuten angestarrt, stand wie angewurzelt davor. Das weiß ich noch."
Ich mache eine kurze Pause.
"Irgendwann war der dann auch weg."
Meine Stimme bricht, die letzten Worte sind kaum zu verstehen.
Ein teuflisches Fiepen baut sich in meinem Kopf auf, solange ich versuche, die Tränen zurückzuhalten. Ich spüre, wie mein Kopf rot wird, beiße mir in die Faust, kann dem Druck aber nicht länger standhalten.

Manchmal fühlt es sich so an, als hätten die vielen Tränen, die ich ihretwegen schon geweint habe, Rinnen auf meinen Wangen gebildet. Durch diese fließen jedes Mal wieder, wenn ich nicht mehr kann.
Dann brennt es, wenn ich weine. Meine Haut fühlt sich an wie Feuer und wird rot. Mit jeder Träne, die läuft, bohrt sich ihr Weg noch tiefer in mein Gesicht. Als würden sie sich noch mehr einbrennen, die Tränen, in meine Haut, in meine Seele. Als würden sie irgendwann auf meinen Knochen landen und dort fließen, dann versiegen. Und das tut nicht weniger weh.
Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt noch weinen kann. Wie mein Körper das noch schafft.
Ich schließe die Augen.

In den folgenden Stunden der Autofahrt sind wir beide ruhig. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob das Radio läuft. Mein Handy liegt in dem Fach der Beifahrertür, stummgeschaltet.
Kurz nach der vorletzten Ausfahrt fällt es mir schlagartig wie Schuppen von den Augen, als ich das Schild Wilmersdorf sehe: Ich will in knapp einer halben Stunde meinem Vater erzählen, dass ich mit einem Mann zusammen bin.
Fast panisch geht mein Griff zu meinem Handy und ich öffne den Chat mit meinem Bruder.
<<sind gleich wieder in Berlin. hast du Papa schonmal was gesagt in der Richtung irgendwie?>>
Er kennt meinen Plan genau, weiß, worum es geht. Ich muss das nicht extra erwähnen.
<<fuck, ich bin so krass aufgeregt>> schiebe ich hinterher und spreche es laut aus. Ich lege mein Handy wieder weg, atme tief ein, drücke mich im Sitz ein Stück nach oben und wische mir verzweifelt mit der rechten Hand über die Stirn. Mein Ellenbogen stützt im Seitenfenster.
Auch Tommi weiß, was ich meine.

"Man, weißt du, ich will dich nicht immer alleine lassen, wenn ich zu ihm fahre. Ich will unsere Beziehung nicht mehr vor ihm vertuschen. Er hat ein Recht darauf zu erfahren, wer und  was mich glücklich macht." sage ich und überprüfe gleichzeitig, ob ich neue Nachrichten habe.
Tatsächlich:
<<nee, hab nix gepfiffen. mach mal schön selber. aber das wird bestimmt nicht schlimm. du schaffst das✌>> antwortet mein Bruder. Ich nicke. Ich schaffe das. Wir schaffen das.
Nicht weniger unsicher schaue ich zu Tommi, der meinen Wagen gerade im vierten Gang durch Neukölln lenkt. Er strahlt Ruhe aus.

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Where stories live. Discover now