Verliebt

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Wir waren sofort nach dem Unterricht aufgebrochen. Mit Nathan zusammen war es kein Problem, dass ich den Wald der Alphas betrat. Auch wenn es mich vorher nie aufgehalten hatte, alleine zu gehen, war es mir plötzlich lieber, nicht alleine unterwegs zu sein.
Nathan war verkrampft. Ich musste auf einen Baum klettern, um nicht direkt in Reichweite zu sein - sagte er - falls er den Wolf nicht kontrollieren konnte. Es half nichts, dass ich ihm mehrfach erklärte, dass sein Wolf nicht wütend war. Sein Wolf hatte kein Problem mit mir, so lange er nicht hungrig war. Aber Nathan vertraute sich selber nicht.
Diese Angst vor sich selbst blockierte ihn, aber ich musste einsehen, dass meine Worte da nicht helfen würden.
"Lass uns erstmal Essen gehen. Hunger ist ein wichtiger Faktor bei der Verwandlung. Satt ist meine Füchsin weitaus umgänglicher, als hungrig." Außerdem fror ich mir den Arsch ab, aber das wollte ich Nathan nicht sagen. Er würde sich schuldig fühlen, weil er so langsam Fortschritte machte.
Wir gingen zur Mensa und stießen auf ein Problem, über das wir nicht gesprochen hatten. Das Alpharudel saß an einem Tisch etwas abseits. Normalerweise hätte Nathan sich zu ihnen setzen müssen, aber ich würde unter keinen Umständen an diesen Tisch gehen. Unsicher sah ich zwischen Nathan und dem Rudel hin und her.
Für Nathan schien die Situation klar. "Thomas und Eva sind nicht da. Sollen wir sie zum essen holen?"
Mein Herz machte einen Sprung. Ich wollte nicht, dass er sich zwischen mir und seinen Freunden entscheiden musste, aber es freute mich trotzdem, dass er mich wählen würde. "Die beiden haben bestimmt schon gegessen. Thomas isst immer zwei mal Abendessen. Deshalb essen sie das erste mal relativ früh und das zweite Mal kurz bevor hier alles zu ist."
"Essen die beiden immer zusammen? Was ist mit ihren anderen Freunden?"
"Ich glaube, viele davon fürchten mich", gestand ich leise. "Manchmal mache ich extra lange Hausaufgaben, damit die beiden sich mit anderen Leuten treffen können." Ich zuckte mit den Schultern. Seit ich wusste, welche Wirkung ich auf andere hatte, tat es nicht mehr so weh. Ich wollte niemandem Angst machen, aber ich verstand, dass man sich seine Angst nicht aussuchen konnte - besonders nicht, wenn sie berechtigt war.
Wir holten uns was zu essen und setzten uns zu zweit an einen Tisch. Nathan griff sogar rüber zum Nachbartisch und schnappte eine kleine Vase mit einer Plastikblume darin. "Wenn schon, denn schon", grinste er und plötzlich war ich diejenige, die rot wurde und den Blick senken musste. "Aber vielleicht darf ich dich am Wochenende in ein richtiges Restaurant einladen. Du weißt schon. Ein richtiges Date."
"Das würde mir gefallen", gestand ich und schaute langsam wieder zu ihm hoch.
Es war praktisch, dass Nathan Linkshänder war und ich Rechtshänderin. So konnten wir über den Tisch hinweg Händchenhalten. Natürlich war das unpraktisch zum Essen, aber ich hätte lieber mit den Fingern gegessen, als Nathans Hand wieder los zu lassen.
"Stört es dich, dass die Leute über uns tuscheln", fragte ich, nachdem wir aufgegessen hatten.
"Ich dachte, es würde mich stören", sagte Nathan ehrlich. "Aber komischerweise tut es das nicht." Sein Lächeln beraubte mich meines Verstands und ich konnte nichts tun, als Nathan nur dümmlich grinsend anzustarren. Ihm musste es genauso gehen, denn er kicherte und lehnte sich zu mir herüber, um mich zu küssen. Es war immer noch seltsam. Ich hatte so viele Menschen geküsst, doch nichts hatte sich so angefühlt, wie Nathans Küsse.
"Fuck", flüsterte ich an Nathans Lippen und grinste noch breiter als zuvor. "Ich bin echt verknallt in dich." Seine blauen Augen funkelten und bevor er mir eine freche Antwort geben konnte, zog ich ihn wieder an mich, um ihm gierig mehr Küsse zu stehlen. Manchmal war es okay, gierig zu sein, sagte ich mir selbst. Besonders, wenn sich im Hinterkopf schon wieder das Bewusstsein dafür meldete, dass man eigentlich wieder raus in die Kälte musste, um Nathan darauf vorzubereiten, vielleicht angegriffen zu werden.

Der Wald war so still, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Durch die Kälte waren die meisten Tiere damit beschäftigt, sich warm zu halten. Mitten in der Nacht herum zu laufen war da nicht unbedingt die erste Wahl. Genau wie die wenigsten Schüler bei diesem Wetter gerne unterwegs waren. Es war einfach mit Nathan in dieser Stille zu existieren. Man konnte gut vergessen, dass es noch etwas anderes als uns und diese tiefe, eindringliche Stille gab.
Ruhe, ging es mir durch den Kopf. Ruhe war das, was ich mir bis in die tiefsten Fasern meines Seins herbei gesehnt hatte. Ich zog Nathan näher an mich heran und vergrub meinen Kopf an seiner Schulter, steckte mein Gesicht tief in seinen Schal und genoß einfach diesen Moment. Hier, mit dem Werwolf in den ich mich verliebt hatte, für den ich vielleicht einmal Liebe empfinden würde, wie meine Eltern es taten; ja hier fühlte ich mich zum ersten Mal angekommen. Alles in mir wehrte sich dagegen, darüber nachzudenken, warum wir eigentlich hier waren.
"Ist das die Ruhe vor dem Sturm?" Nathan platzierte winzige Küsse quer über meine Stirn. "Wirst du gleich wieder etwas Schreckliches sagen?" Ich spürte, wie seine Lippen sich auf meiner Haut zu einem Lächeln verzogen.
"Wie kannst du dich darüber freuen?" Ich kam nach Luft schnappend aus meinem Versteck hervor. Es gab tatsächlich etwas, über das wir noch nicht gesprochen hatten. Etwas, dass wir vielleicht klären sollten, bevor wir uns gegenseitig das Herz brechen würden.
"Ich liebe dein Feuer." Seine Augen glänzten, während er meinen Trotz beobachtete.
"Wer weiß wie lange noch." Ich presste die Lippen zusammen - auch dann noch, als er mich sanft küsste. Ich hatte es immer noch nicht über mich gebracht, ihn zu fragen, wie sehr an seinem Platz im Alpharudel hang. Und gerade die Tatsache, dass er vielleicht das Opfer eines Verrückten werden könnte, drängte mich mehr denn je dazu, diese verdammte Rangordnung abzuschaffen.
"Ich hoffe doch für sehr sehr lange Zeit", flüsterte er und küsste mich nach jedem Wort, bis ich endlich auftaute. "Du glaubst gar nicht, wie lange ich darauf gewartet habe, das tun zu können." Er schlang seine Arme um mich und ich ließ mich bereitwillig in die Wärme fallen. Einen Augenblick noch, sagte ich mir. Einen Augenblick wollte ich nur diesen perfekten Moment genießen.

Doch auch der schönste Moment kann nicht für immer andauern, hatte ich mal als schlaues Zitat gelesen. Nichts konnte wahrer sein. Langsam löste ich mich von Nathan und verlor mich fast wieder in seinen wunderschönen Augen. Dem blassen Himmelblau, das zu den Rändern hin dunkler wurde.
Ich machte einen Schritt zurück und spürte den Abstand zwischen uns sofort wie einen körperlichen Schmerz. Es half nichts. "Nathan", sagte ich und senkte den Blick um nicht das traurige Lächeln sehen zu müssen. "Ich werde versuchen, dass Alpharudel abzuschaffen."
"Versuchst du das nicht schon die ganze Zeit?" Er wollte mir wieder näher kommen, doch ich hielt ihn auf Abstand.
"Nein. Ich meine es ernst." Ich musste mich sammeln, bevor ich wirklich heraus brachte, was wichtig war. "Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, aber vielleicht ist jetzt der einzige Zeitpunkt, zu dem es wirklich möglich ist. Es gibt zum ersten Mal Zweifel am Alpharudel." Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geohrfeigt. Ich wollte sofort alles zurücknehmen, ihm versichern, dass ich nichts tun würde. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Ich konnte nicht stillhalten. Das war nicht meine Art. Ich musste tief durchatmen, um weitersprechen zu können. Über uns flog ein Schwarm Vögel vorbei. Jetzt oder nie. "Ich sage nicht, dass ihr nicht weiter ein tolles, gemischtes Rudel sein könnt, aber ich ertrage es nicht, wie sehr sich alle anderen auf euch ausruhen. Ich meine" Ich warf meine Arme in die Luft. "Es ist nichts als ein Konstrukt, dass jemand aus dem Nichts erdacht hat. Wir können es genauso wieder einreißen. Wir sind Kinder!" Meine Wut entsprang der Hilflosigkeit. Es war nicht fair, Nathan so anzuschreien. "Wir sollten nicht die Verantwortung für hunderte unserer Mitschüler haben!"
"Du hast dich doch vor der Verantwortung gedrückt! Und überhaupt - wie willst du das anstellen? Wie willst du etwas auslöschen, das seit Jahrzehnten in allen Köpfen ist?"
"Ich werde Jenna herausfordern." Mit einem Mal war ich ganz ruhig. "Ich werde sie zu einem Kampf um ihre Position als Anführerin herausfordern."
"Hast du den Verstand verloren? Sie ist ein verdammter Bär! Sie würde dich mit einem Schlag umbringen."
Ich wusste nicht, woher ich plötzlich diese Sicherheit hatte, aber ich war bereit, mein Leben darauf zu verwetten. "Das wird sie nicht. Sie wird sich mir ergeben." Nathan und ich starrten uns regungslos in die Augen. Ich konnte direkt dabei zusehen, wie ihm langsam klar wurde, dass ich Recht hatte. Jenna hatte nie die Anführerin sein wollen. Sie litt. Für sie wäre es ein willkommener Ausweg, wenn ich sie herausfordern würde.
"Das kannst du nicht tun. Und selbst wenn. Was willst du dann machen? Einfach laut heraus posaunen, dass das Alpharudel nicht mehr existiert? Glaubst du nicht, dass sich locker zwei dutzend Schüler auf dich stürzen würden, nur um dir die Krone zu entreißen?"
"Nein, das werden sie nicht. Ich werde Jenna besiegt haben. Die eine Alpha zu der ihr alle aufseht."
"Helena wird sich davon nicht beeindrucken lassen." Nathan griff nach Strohhalmen. Ich wusste es. Er wusste es.
"Helena kann sich nicht halb so schnell verwandeln, wie ich und selbst wenn sie verwandelt ist, entscheidet immer noch die Löwin in ihr, was sie tun will. Glaubst du eine Löwin hat Lust, sich mit einem Fuchs abzugeben?" Ich hätte fast bei dem Gedanken gelacht. "Das ist die eine Sache, die ich euch voraus habe." Ich wollte nicht so mit Nathan sprechen. Ich wollte wieder seine Hand nehmen, wollte mein Herz an seines pressen, um den Schmerz zu lindern, den wir beide gerade empfanden. "Ich und die Füchsin, wir sind uns einig. Wir sind eins. Kannst das hier irgendjemand sonst von sich und seinem Tier sagen? Nein. Um so mehr ein Grund, diese starren Mauern einzureißen. Damit wir alle die Chance haben, uns frei zu entfalten." Ich musste mir fest auf die Innenseite meiner Wange beißen, um nicht vor Wut zu weinen. Es war so lange überfällig, dass endlich jemand etwas unternahm. Diese Schule sollte uns die Freiheit schenken, keine Ketten.
Nathan öffnete den Mund, doch er bekam keine Chance zu antworten. Ein großer Ast traf ihn heftig am Kopf und er ging zu Boden.

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