Todesangst

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Ich hatte gerade erst die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht, als schreiend ein Vogel durch das Blätterdach herunter brach. Ich riss schützend die Arme über den Kopf, doch das Tier landete schimpfend vor mir auf einen Ast. Zögernd spähte ich zwischen meinen Armen hindurch. Vor mir saß ein riesiger Uhu und murmelte in einer Tour vor sich hin.

"Eva?", fragte ich zögernd. Endlich schwieg der Vogel und streckte mir das Bein entgegen. Darum war ein dickes Stück Stoff gewickelt. Ich löste den Knoten und verstand endlich, was Eva mir da gebracht hatte. Es war ein dünnes Nachthemd. Nicht unbedingt etwas, das ich in der Öffentlichkeit tragen sollte, aber es bedeckte genug, um damit schnell in mein Zimmer im Wohnheim flüchten zu können.

Der Uhu verschwand, kaum dass ich den Stoff in der Hand hielt. Ich ließ das Hemd über meinen Kopf gleiten und lehnte mich für eine Minute an den nächsten Baum um Luft zu schnappen. Normalerweise verbrachte ich nicht so viel Zeit als Mensch im Wald. Besonders nicht nackt.

Mein Körper beschwerte sich. Die Schrammen von den Ästen und Dornen brannten an meinen Beinen, aber sie waren nichts im Vergleich zu meinem Knöchel. Die letzten Meter war ich schon mehr schlecht als recht gehumpelt. Der Mond war bereits wieder hinter den Bäumen verschwunden und bald würde die Sonne den Morgen einläuten.

"Wo zur Hölle warst du!" Eva kam wutentbrannt zwischen den Bäumen hervor. "Nathan ist vor über einer Stunde wieder im Wohnheim aufgetaucht! Ich dachte, er hätte dir den Kopf abgerissen oder so." Endlich entdeckte sie meinen Knöchel, der sich langsam blau und lila färbte. "Oh. Ich lag wohl gar nicht so falsch mit der Vermutung. Komm. Ich bringe dich ins Krankenzimmer."

Tatsächlich kam ich mit Evas Hilfe sehr viel schneller voran und wir schafften es, bei Tagesanbruch wieder auf dem Schulgelände zu sein. Ich hatte Eva nicht verbessert, als sie geschlussfolgert hatte, dass Nathan mir diese Verletzung zugefügt hatte und langsam formte sich in meinem Kopf ein Lösung für mein Problem. Ich bat sie, draußen zu warten, als die junge Ärztin mich untersuchte.

"Das sieht aber nicht nach einem Biss aus", fragte sie mich zögernd, nachdem Eva ihr lauthals erklärt hatte, man hätte mich hinterrücks attackiert.

"Ist es auch nicht", flüsterte ich gerade laut genug, damit nur sie mich hören konnte. "Ich habe mich nicht getraut, ihr zu erzählen, dass ich mich im Wald verlaufen habe und alleine war, als das passierte." Ich war nicht sicher, ob ich der Ärztin von dem Nesselfeld erzählen wollte. Ich wusste aus schmerzhafter eigener Erfahrung, dass es kein spezielles Heilmittel gegen die Entzündung gab, die die Pflanze auslöste. Man konnte nur die üblichen Entzündungshemmer nehmen, den Fuß schonen und gegen die Schwellung kühlen.

Genau das empfahl mir die Ärztin auch. Sie legte einen engen Verband an, um die Schwellung in den Griff zu bekommen und reichte mir zwei Krücken, damit ich nicht auftreten musste. Außerdem versprach sie mir, mich nicht zu verraten, so lange ich keine bösen Gerüchte in die Welt setzen würde. Ich dankte ihr artig und humpelte zu Eva auf den Flur hinaus. Zu meinem Entsetzen kam in eben jenem Moment Nathan um die Ecke gebogen und hielt zielstrebig auf uns zu.

Ich wich ängstlich zurück als Nathan mir zu nahe kam, meine Augen fest auf den weißen Boden geheftet. "Es tut mir Leid", haspelte ich und musste meine Nervosität nicht mal spielen. "Ich habe es verstanden. Ich werde dir in Zukunft keinen Ärger mehr machen. Versprochen. Du hast nichts von mir zu befürchten." Ich betete inständig, dass er meinen Wink mit dem Zaunpfahl verstand.

Für eine Sekunde stand er nur da und sah mich finster an, dann gewann er seine Fassung zurück. "Gut", war alles, was er zu sagen hatte. Dann - und damit hatte ich nicht gerechnet- drückte er mir ein Bündel Klamotten unter den Arm -in die Hand hatte ich es ja nicht nehmen können, mit den Krücken - und er verschwand wieder.

The FoxWhere stories live. Discover now