Beklommen

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Der erste Tag nach den Ferien war anstrengend. Ich war müder, als ich sein sollte. Meine Eltern hatten zugestimmt, mich schon am Samstag, statt erst am Sonntag wieder zurück zu fahren, damit ich einen Tag länger Zeit hatte, mich wieder einzufinden.
In Wirklichkeit wollte ich einfach einen Tag mehr Zeit, um mich darauf vorzubereiten, den anderen Alphas wieder entgegen treten zu müssen. Zu meinem Erstaunen waren alle sehr gefasst. Vielleicht hatten ihnen die zwei Wochen Auszeit gut getan.
"Es ist so schön, wieder hier zu sein." Eva ließ sich mit dem Gesicht voran aufs Bett fallen. "In den Weihnachtsferien werde ich definitiv auf dein Angebot zurück kommen. Deine Eltern wirken so viel unkomplizierter als meine."
Ich lachte laut. "Du wirst dich nur darauf vorbereiten müssen, einen schrecklichen Weihnachtspullover geschenkt zu bekommen."
"So einen wollte ich schon immer mal haben!" Eva war hellaufbegeistert und ich spürte etwas, das mir vorher nicht bewusst geworden war. Es war die gleiche Wärme, die ich empfand, wenn meine Eltern sich ansahen. Die gleiche Wärme, die der schreckliche Schlafanzug in mir auslöste.
"Fuck", flüsterte ich.
"Was ist?" Sofort schwang Evas Begeisterung zu Sorge um.
"Ich glaube, ich verstehe es jetzt."
"Was?" Es regte sie auf, wenn sie mir alles aus der Nase ziehen musste, auch wenn sie sich gerne genauso verhielt. Doch dieses Mal machte ich es nicht absichtlich. Ich brauchte einen Moment, um in Worte fassen zu können, was mir durch den Kopf ging.
"Ich glaube, ich verstehe jetzt, was es bedeutet, die Anführerin eines Rudels zu sein. Es ist wie eine Familie, oder?"
Eva blinzelte mich ohne großes Verständnis an. "Nicht wie meine Familie."
"Nein, aber wie meine Familie. Bisher waren nur meine Eltern und ich ein Rudel. Aber..." Ich wollte Eva nicht bedrängen, weil ich nicht wusste, wie weit ihre Freundschaft zu mir ging. Doch es half auch nichts, es zu verschweigen. Ich brauchte Verbündete und Eva war auf jeden Fall meine erste Wahl. "Ich habe es vor den Ferien nicht bemerkt, weil es sich langsam aufgebaut hat, aber gerade eben da... ich habe dich ganz selbstverständlich als Teil meiner Familie empfunden. Als Teil meines Rudels."
Eva reagierte nicht, wie ich erwartet hatte. Sie stand auf und fiel mir um den Hals. Obwohl sie sonst kein Freund von Körperkontakt war, drückte sie mich so fest, dass mir die Luft wegblieb, ehe sie wieder auf Abstand ging. "Ich bin so erleichtert! Ich dachte, es ginge nur mir so!"
Der Stein, der mir vom Herzen fiel, war beinahe zu hören. "Also fühlt sich ein Rudel zu sein tatsächlich anders an, als Freundschaft?", fragte ich unsicher, ob Eva schon mal wirklich Teil eines Rudels gewesen war.
"Wenn es richtig läuft, fängt es als Freundschaft an und irgendwann ist es irgendwie mehr. Wie du schon sagst, es ist, wie Familie. Aber eine Wahlfamilie, weil echte Familien fühlen sich nicht immer so gut an."
Damit war es also besiegelt. Wir waren ein richtiges, echtes Rudel.
Und als wäre das alleine nicht schon das beste Gefühl überhaupt, erfuhr ich noch am ersten Schultag, dass Herr Fletcher offenbar Hals über Kopf die Schule verlassen hatte, ohne auch nur eine Kündigung zu hinterlassen. Geschah ihm Recht, dachte ich und erinnerte mich, dass er es schon vorher schwer genug in der Formwandlergemeinschaft gehabt hatte. Nach diesem Abgang würde ihn so schnell keiner mehr einstellen.

Die Nächte waren so kalt geworden, dass nicht mal die Füchsin große Lust hatte, die Wärme meines Bettes zu verlassen. Eva hatte mich an einem Wochenende mit in die nächste Stadt genommen, damit ich mir endlich passende Garderobe zulegen konnte und sie war dabei so aufgeregt gewesen, dass ich mir heimlich vorgenommen hatte, ihr ein Fotoalbum zu Weihnachten zu schenken, das sie an all die ersten Male erinnern konnte, die wir hatten. Unsere erste Nacht mit Pizza und schnulzigen Liebesgeschichten. Unsere erste Shoppingtour. Unsere erste Nacht mit Kuchen und Horrorfilmen. Eva war eigenwillig, ja, aber ich verstand nicht, was andere Mädchen davon abgehalten hatte, diese Dinge mit ihr zu machen? Sie hatte Freunde, aber offenbar keine engen.
Wir kicherten noch über die Pläne, die wir für dieses Wochenende gemacht hatten, als wir das große, schwarze Auto auf dem Lehrerparkplatz sahen. Wir waren nicht die Ersten, die sich daran erinnerten, wer dieses Auto fuhr. Um uns herum waren überall Schülergruppen stehen geblieben und tuschelten über ihre Entdeckung. Das Auto gehörte der Kommissarin, die auch den Angriff auf Luisa bearbeitet hatte. Ich hatte gehört, dass Luisa am Leben war, aber noch immer im Krankenhaus. Warum sollte die Polizei hier sein, wenn es nicht doch noch zu einem Mord geworden war? Ich schlang meinen neuen Mantel enger um mich. Eva war auch nicht mehr nach Lachen zumute. Schweigend setzten wir unseren Weg zum Unterricht fort.

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