Verletzlich

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Die Lehrerschaft hatte beschlossen, am nächsten Tag so weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Es war schwer, die Schüler ruhig zu halten, doch wenigstens hielt Jenna ihr Wort. Mehr als finstere Blicke und leise gezischte Schimpfwörter bekam ich nicht zu spüren. Ich war mir nur nicht mehr sicher, ob das wirklich so gut war. Wenn Jenna mich als Freundin des Rudels bezeichnen würde, konnte mich das endgültig in die Schusslinie bringen.

Die Polizei holte mich mitten aus dem Unterricht für zeitgenössische Literatur. Die ersten Fragen waren nur eine Wiederholung dessen, was ich schon am Abend zuvor erzählt hatte. Testeten sie meine Geschichte auf Fehler? Ich hielt mich weiterhin genau an meine Geschichte und erwähnte Nathan nicht mit einem Wort.

"Wie geht es Luisa? Die Lehrer dürfen uns nichts sagen..." Die Polizistin, mit der ich sprach hatte am Abend zuvor umgänglich gewirkt, doch heute sah man ihr an, dass sie die ganze Nacht verbissen daran gearbeitet hatte, schnell den Fall zu lösen. Ihr Bluse war knitterig. Die dunklen Augenringe konnte kein Concealer mehr verstecken und ihr blondes Haar war ungekämmt in einen Zopf gezwungen worden.

"Wir dürfen ebenfalls keine Angaben machen", sagte sie angebunden.

"Es gibt eine Menge Leute, mit denen Luisa befreundet war; Leute, die keinen klaren Gedanken fassen können, bis sie nicht wissen, wie es ihrer Freundin geht."

"Und es gibt jemanden, der Luisa das angetan hat", unterbrach mich die Frau. "Glaubst du, ich habe kein Mitgefühl? Jede Aussage, die ich dir gegenüber dazu mache, jede Aussage, die diesen Raum verlässt, kann und wird unsere Ermittlungen behindern." Ihre scharfen Augen huschten zwischen meinen hin und her, um zu sehen, ob ich verstand.

"Sollte Luisa noch am Leben sein... sollte sie sich erholen...Glauben Sie, der Mörder wird es wieder versuchen?", tastete ich mich unsicher heran.

"Wenn ich glauben würde, dass ihr einen Mörder an der Schule habt, müsste ich euch alle sofort nach Hause schicken." Damit war das Thema für sie beendet. Ich schluckte trocken. Sie musste riechen, wie wieder die Angst in mir hochkroch, denn ihr Gesicht wurde weicher. "Hör zu, wir alle geben unser Bestes, um die Ermittlungen so schnell wie möglich zum Ergebnis zu bringen. So lange wir regelmäßig auf dem Gelände sind, wird es eine abschreckende Wirkung haben. Mach dir also keine Sorgen." Ich nickte, auch wenn ihre Worte mich nicht beruhigten.

Ich hatte nichts über Luisa in Erfahrung bringen können und die Schuldgefühle, wie froh ich darüber war, fraßen mich auf. Wie konnte ich so erleichtert sein, nichts zu wissen? Nichts in der Hand zu haben, was ich Jenna erzählen konnte? Und doch...
Ohne Neuigkeiten gab es für mich keinen Grund, dem Alpharudel zu nahe zu kommen.

Ich klopfte kraftlos an die Tür zum Physikraum. Herr Fletcher war darüber informiert, wo ich gewesen war und nickte mir nur stumm zu. Er fuhr einfach mit seinem Unterricht fort und ermahnte mich auch nicht, als er bemerkte, wie ich abwesend aus dem Fenster starrte. Nur als es zum Ende der Stunde klingelte und ich es nicht eilig hatte, mit den anderen zusammen zu gehen, kam er zu mir herüber.

"Wie hältst du dich?", fragte er und tippte mit seinem Stift auf meinen Tisch, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.

"Über Wasser?", versuchte ich zu scherzen, aber es misslang mir fürchterlich.

"Willst du drüber reden oder lieber abgelenkt werden?"
"Beides nicht, wenn die Ablenkung eine zusätzliche Hausaufgabe ist." Jetzt brachte ich Herr Fletcher doch noch zum Lachen. Wenn er lachte, wirkte er wie ein kleiner Junge, der einen Streich gespielt hatte.

"Nein, nichts dergleichen. Aber du hast mal gesagt, dass du dich auch privat für Physik interessierst? Ich sortiere gerade eine Menge meiner Fachbücher aus, die ich als Lehrer nicht mehr brauche. Es wäre doch schade, wenn sowas im Müll landen würde."

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