Hör mir zu

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Harry rannte den Flur entlang und hinaus ins Freie. Kopflos, ziellos rannte er aus dem Garten und die Straße hinab. Snapes Rufe verhalten ungehört hinter ihm. Die Sonne schien warm, es roch nach Gras und Rauch. Keuchend blieb der Gryffindor irgendwann stehen und sah sich um. Niemand war zu sehen. Er wusste nicht mehr, wie lange er gerannt war. Seine Lunge schmerzte und auch sein Rücken begann wieder wehzutun. Er war barfuß und trug nur Shirt und Jogginghosen. Er würde das Haus von Snape allein nie wieder finden. Doch für diesen Moment war es ihm egal. Er wandte sich nach rechts. Ein kleiner Pfad führte über einen Hügel, hinab zu einem Fluss. Harry ging den Weg entlang und kam bald zum Wasser. Am Ufer war freies Feld, soweit das Auge reichte, nur eine einzelne große Eiche warf ihren Schatten auf die Wiese. Erschöpft ging der Junge auf dem Baum zu und ließ sich langsam, an dem mächtigen Stamm auf den Boden sinken. Er zog die Knie an und lauschte dem Wasser und dem Gesang der Vögel. Ganz langsam begannen ihm Tränen über die Wange zu laufen. Immer wieder wischte er sie fort, doch irgendwann wurde er von seinen Gefühlen übermannt und weinte haltlos. Alles, an das er die letzten Jahre geglaubt hatte, war nichts mehr wert. Snape war sein Vater, nicht James. Snape, der Mann, der ihn die letzten zwei Jahre behandelt hatte, als würde er ihn aus tiefster Seele hassen. Wie konnte das alles sein? Wer wusste noch davon, warum hatte es ihm niemand gesagt? Inzwischen schluchzte Harry haltlos, rollte sich unter dem Baum klein zusammen und es war fast so, als wolle der warme Sommerwind, der nun über ihn strich, ihn trösten.

Snape sah sich verzweifelt um. Als Harry hinausgerannt war, dachte er noch, der Junge würde am Gartentor stoppen, doch er war schnell. Ehe Severus ihm nachsetzen konnte, war er verschwunden.

»Ganz toll Severus Snape, das hast du ja toll hinbekommen. Es tut mir leid Lily, ich bin offenbar kein besonders guter Vater«, sagte er zu sich selber und griff an die Kette, die er unter seinen Roben trug. Er lief durch die Straßen und überlegte, wo Harry sein konnte. Ohne Schuhe wäre er doch sicher nicht weit gekommen. Wieder kam Wind auf und trug das Rauschen von Wasser, an das Ohr des Tränkemeisters. Konnte der Junge vielleicht dort sein? Severus wand sich um und ging den allzu bekannten Weg entlang. Als er aus dem Schatten der Bäume trat und den kleinen Hügel überquerte, sah er ihn sofort. Harry lag zusammengerollt unter dem Baum. Severus eilte die Wiese hinab und war nur Sekunden später, neben dem Kind. Erst jetzt sah er, dass der Junge weinte. Er kniete sich zu ihm und berührte ihn leicht an der Schulter. Sofort zuckte Harry zurück, setzte sich auf und drückte sich gegen den Baum. Gehetzt sah er sich um, scheinbar ohne den Mann vor sich, wirklich zu erkennen.

»Ganz ruhig. Ich bin es. Keine Angst«, sagte Severus so sanft, wie er konnte. Langsam beruhigte sich Harry und sah den Lehrer nun aus roten Augen an.

»Harry, es tut mir leid. Ich wollte nicht...also ich wollte es dir eigentlich schonender beibringen, aber offenbar tauge ich dazu nicht besonders.«

»E-Es ist also alles wahr? Sie sind mein Vater?«, der Gryffindor hatte die Beine wieder angezogen. Er fror offensichtlich. Es war zwar nicht sonderlich kalt, aber er war barfuß und noch immer nicht ganz gesund. Schnell zog Snape seinen Umhang aus und legte ihn dem Jungen um. Erstaunt sah Harry, dass der Mann unter dem Umhang ein legeres T-Shirt und bequeme Leinenhosen trug. Nie hätte er gedacht, dass Snape überhaupt so etwas besaß.

»Ja das bin ich, und du musst mir glauben, dass alles, was du gesehen hast, der Wahrheit entspricht.«

»Aber warum...warum...ich meine das alles...warum jetzt?«, schluchzte Harry nun wieder und vergrub das Gesicht in den Händen. Severus konnte es dem Kind nicht verdenken. Alles, an das er geglaubt hatte, alles, was er für wahr hielt, war plötzlich nichts mehr wert. Langsam ging er wieder ein Stück auf seinen Sohn zu und strich ihm über die rabenschwarzen Haare. Diesmal zuckte Harry nicht zurück.

Aus der FerneWhere stories live. Discover now