Tag 3: #EndedesVersteckspiels - Teil 3

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„Komm, wir gehen erstmal rein." Leon nahm meine Hand und zog mich ins Zimmer. Aber ich war immer noch unsicher, ob ich mit ihm über das alles reden wollte. Doch Leon drängte mich nicht. Er machte über seine Box Musik an, öffnete das große Fenster und setzte sich mit seiner E-Zigarette auf die Fensterbank. Das eine Bein ließ er hinaus baumeln. Dann deutete er links neben sich.
„Du kannst dich ruhig zu mir setzen. Ich beiße auch nicht."

Ich lächelte und kletterte auf die Fensterbank neben ihn. Einige Zeit saßen wir schweigend da, hörten der Musik zu und genossen das warme Sommerwetter.

„Du musst zwar nicht erzählen, was dich so beschäftigt, aber wenn du reden möchtest, ich bin da", brach er schließlich das Schweigen. Warum eigentlich nicht? Manuel war in der Zwischenzeit nicht wieder gekommen und meine Gedanken überschlugen sich mehr und mehr. Mein Kopf würde sonst noch explodieren, wenn ich nicht erzählte, was los war. Zudem hatte Leon für die anderen auch immer ein offenes Ohr und ich müsste nicht mal viel reden. Wenn er meinen Text las, würde das schon reichen. Damit gewährte ich ihm zwar einen Einblick in meine tiefsten Gefühle und machte mich verletzbar, aber so wie es jetzt war, konnte es auch nicht weiter gehen. Außerdem vertraute ich Leon so weit, dass er niemandem davon erzählen würde, wenn ich es nicht wollte. Dafür war er viel zu lieb. Immerhin hatte er seine Pläne für mich verschoben und einfach nur da gesessen, um für mich da zu sein. Er war dieser „Everybodys Darling"-Typ, aber auf eine nette und keine arrogante Art und Weise.

„Okay", seufzte ich. Langsam nahm ich die beschriebenen Zettel und reichte sie ihm.
„Lies das. Dann wirst du verstehen, was los ist", erklärte ich.
Während Leon am Lesen war, konzentrierte ich mich auf den Text der einzelnen Lieder. Andernfalls wäre ich wahnsinnig geworden. Was er wohl davon hielt? Würde er mich jetzt verurteilen? Was dachte er über mich, über diese ganze Sache?

„Du schreibst genauso, wie ich es mir vorgestellt habe", sagte er, als er fertig war und riss mich damit aus meinen Gedanken.
„Ja?", harkte ich ungläubig nach. Er hatte sich Gedanken darüber gemacht, wie ich schreibe?

„Ja. Ich habe dich im Unterricht schreiben gesehen und wusste, dass du nicht den Stoff mitschreibst. Dafür hast du viel zu beschäftigt damit ausgesehen und auch viel zu wenig hoch geschaut, um etwas von der Tafel oder der Präsentation abzuschreiben", meinte er.
Okay... damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte nicht bemerkt, dass mich jemand dabei beobachtet hatte. Aber wahrscheinlich hatte Leon Recht. Meine Gedanken hatten so von mir Besitz ergriffen gehabt, dass ich nichts mehr um mich herum wahrgenommen hatte.

„Und was sagst du dazu?", fragte ich vorsichtig.
„Du solltest ehrlich sein. Wenn du wirklich so fühlst, solltest du Max davon erzählen. Es handelt sich doch um ihn, oder?", sagte er.
„Ja", murmelte ich, nickte und senkte leicht verlegen den Blick auf den Boden.

„Dann rede mit ihm. Er wird das verstehen. Und wer weiß, vielleicht fühlt er ja genau wie du... Um das herauszufinden, musst du aber etwas riskieren. Immerhin kannst du keine Gedanken lesen", meinte er.
„Und was ist, wenn er nicht das gleiche empfindet? Dann habe ich mich angreifbar gemacht und bin verletzlich. Außerdem wohnt er in Eutin und ich in Hamburg. Und dann ist da auch noch Amy", fing ich an.
„Du wirst immer Ausreden finden, warum es nicht klappen würde, Mia. Aber sicher kannst du das nicht wissen. Dafür musst du es probieren."

„Warum muss das denn immer so schwer und kompliziert sein?", stöhnte ich.
„Liebe ist immer mit einem Risiko verbunden. Aber das ist es wert", sagte er.
„Ach ja? Und was ist mit den ganzen Enttäuschungen?"
„Und was ist mit den ganzen Happy Ends?", konterte er.

Darauf fiel mir nichts mehr ein. 1:0 für ihn. Er hatte ja Recht. Liebe ohne Risiko gibt es nicht. Man riskiert immer etwas. Man gewährt seinem Gegenüber einen tiefen Einblick in seine Gefühlswert. Wenn er nicht das gleiche empfindet ist das schmerzhaft und tut höllisch weh, aber wenn dieser Mensch ebenfalls diese Gefühle hat, ist es das pure Glück. Von da an trägt man ein Dauerlächeln auf den Lippen und nichts kann einem die gute Laune vermiesen.

„Egal, wie oft ich verletzt wurde, ich würde einem Mädchen jedes Mal wieder meine Gefühle gestehen. Wenn man einmal dieses Glück empfunden hat, weiß man, wie das ist und dass es die ganzen vorherigen Enttäuschungen wert war", erklärte Leon.

Ich hatte beides schon erlebt und wusste genau, was er meinte. Trotzdem war ich mir noch nicht ganz sicher. Wenn ich Max von meinen Gefühlen erzählen würde, er aber nur Freundschaft wollte, musste ich ihn die ganzen restlichen Tage noch sehen. In meiner Freizeit könnte ich ihm zwar aus dem Weg gehen, aber im Unterricht war das unmöglich.

„Ich weiß zwar, was du meinst, aber wenn das bei Max eine der Enttäuschungen ist, muss ich ihn trotzdem noch die ganze Zeit hier in Kiel sehen. Das schaffe ich nicht", äußerte ich meine Bedenken.

„Du bist stärker als du denkst, Mia. Du kannst alles schaffen, davon bin ich überzeugt. Außerdem hast du auch noch mich. Ich bin für dich da." Leon schaute mir in die Augen und zum ersten Mal fiel mir auf, wie grün seine waren. Sie erinnerten mich an den tief grünen Wald, wo ich mich immer frei und stark fühlte. Es war fast so, als sei ich inmitten der Bäume. Ich konnte schon das Rascheln der Blätter im seichten Wind hören und der unverkennbare Geruch des Sommers war in meiner Nase. Ruhe breitete sich in mir aus.
„Danke, Leon."
„Gerne. Wie schon gesagt, ich bin für dich da. Denk in Ruhe über das alles nach und falls du wieder jemandem zum Reden brauchst, weißt du, wo du mich findest", lächelte er.
In dem Moment wechselte die Musik zu dem Lied „Monsta" von Culcha Candela.

„Oh ja, das ist genau das, was du jetzt brauchst", sagte Leon und machte lauter. Er kletterte von der Fensterbank runter, nahm meine Hand und zog mich zu sich. Dann fing er an mit mir zu tanzen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Aber dieser Song weckte nicht nur bei ihm gute Erinnerungen. Den Text kannten wir beide auswendig und so grölten wir mit. Zwischendurch hob Leon immer wieder seine Hand und ließ mich drehen. Es tat so gut. Max, Amy, meine Gefühle, das alles vergaß ich für diesen Moment. Meine ganzen Sorgen und Probleme waren wie weg geblasen. In meinem Kopf war nur noch die Musik und die Bewegungen von Leon und mir. Ich fühlte mich frei und unbeschwert wie sonst beim Laufen oder Schreiben. Leon war ein echter Freund, das wurde mir da mehr als bewusst. Er hatte meinen Text gelesen, mir zugehört und gesagt, er sei für mich da. Warum hatte ich nicht schon viel früher bemerkt, was für ein guter Freund er ist? Doch die Antwort auf die Frage war egal, denn die Hauptsache war, dass ich das jetzt wusste.

Als das Lied vorbei war, ließen wir uns lachend auf sein Bett fallen.
„Das tat echt gut", lachte ich.
„Dann war die Idee ja genau richtig", erwiderte er.
„Definitiv!"

Leon machte die Musik wieder leiser und wir fingen an über alles Mögliche zu quatschen. Eine Stunde später kam Manuel wieder und gesellte sich zu uns.
„Hey, Manuel", begrüßte ich ihn.
„Hey, Mia. Alles gut bei dir?"
„Ja, alles gut", antwortete ich.
„Das freut mich." Manuel nahm sich einen der Stühle und stellte ihn zu Leons Bett. Dann begrüßten sich die Jungs mit Handschlag und er setzte sich mit seiner Kamera um den Hals.

„Hast du ein paar gute Fotos machen können?" fragte ich ihn.
„Mia hat dich vorhin gesucht. Da hab ich ihr gesagt, dass du noch draußen bist", erklärte Leon.
„Okay... Wolltest du etwas Bestimmtes?", hakte Manuel nach.
„Ich brauchte nur jemanden zum Reden", meinte ich.
„Sorry, dass ich nicht da war. Du hättest mich sonst auch anrufen können", sagte er.
„Alles gut. Leon war ein ganz passabler Ersatz."
„Nur passabel?", protestierte er gespielt beleidigt. Ich verdrehte gespielt die Augen.
„Gut, ich gebe es zu. Ich scheine einen neuen, guten Freund gefunden zu haben... Besser?", gab ich zu.
„Viel besser", erwiderte Leon. Dann fingen wir alle drei zu lachen an.

Wir redeten noch einige Zeit zu dritt und spielten Karten. Als es kurz vor acht war, verabschiedete ich mich von den beiden, da ich noch ein bisschen Zeit für mich und zum Nachdenken haben wollte. Ich umarmte die beiden zum Abschied.
„Ich hab das mit dem guten Freund ernst gemeint", flüsterte ich, als ich Leon umarmte.
„Und ich, dass ich für dich da bin", murmelte er zurück.
Danach machte ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer.

Als ich um die Ecke in den Gang, wo mein Zimmer lag, bog, blieb ich wie angewurzelt stehen. Dort stand Max. Da er mir den Rücken zuwandte, hatte er mich noch nicht bemerkt. Schnell rannte ich zur nächsten Treppe und flüchtete ins untere Stockwerk. Ich ging in den nächstbesten Gang und lehnte mich gegen die Wand.

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