Nervös

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Meine Eltern hatten mich unbedingt noch bis in mein Zimmer im Wohnheim begleiten wollen, doch als ich sah, dass alle anderen Eltern sich am Tor verabschiedeten, hatte ich sie angefleht, mich alleine gehen zu lassen. Enttäuscht, aber verständnisvoll hatten sie mich ein letztes Mal in die Arme genommen. Sie blieben mit ihrem kleinen, schwarzen Honda mitten im Weg stehen, bis ich außer Sichtweite war.

Insgeheim musste ich über meine Eltern grinsen. Sie waren schrecklich, aber immerhin akzeptierten sie, dass sie nicht die leiseste Ahnung davon hatten, was cool war und was nicht. Und offenbar war von seinen Eltern begleitet zu werden uncool.

Ich schleppte meinen Koffer die Auffahrt hinauf, immer den anderen Schülern hinterher. Schon jetzt erntete ich reichlich fragende Blicke, aber niemand kam und sprach mich an - niemand außer einem kleinen Mädchen mit hellbraunen Haaren.

"Du musst die Neue sein." Sie musterte mich, als wäre ihre Meinung entscheidend, ob ich bleiben durfte oder nicht. "Ich habe mir wohl umsonst sorgen gemacht. Mein Name ist Rebecca." Sie streckte mir die Hand entgegen und ich musste meinen Koffer abstellen, um sie zu ergreifen.

"Kassandra, freut mich." Wobei ich noch nicht sicher war, ob es mich wirklich freute. Sie hatte eine sehr intensive Stimme und obwohl sie sich der Blicke bewusst war, sprach sie nicht leiser. Mein Vorsatz, möglichst nicht aufzufallen, würde mit ihr zusammen noch schwerer als eh schon werden.

"Kassandra. Ein schöner Name. Komm, ich zeige dir dein Zimmer."
Ich folgte ihr dankbar einige Schritte, ehe mir der Fehler auffiel. "Woher weißt du, in welchem Zimmer ich wohne?"

Rebecca blieb stehen und verzog mitleidig den Mund. "Oh. Du kannst es ja gar nicht wissen. Ich weiß in welchem Zimmer du wohnst, weil nur in einem Zimmer ein Bett frei geworden ist." Damit war ihre Erklärung beendet und ich beschloss, dass es mir wichtiger war, mein Zimmer zu finden und den lästigen Koffer abzustellen, als sofort weitere Fragen zu stellen.

"Das Wohnheim ist in der Mitte geteilt", erklärte Rebecca. "Auf der rechten Seite sind die Jungen untergebracht und auf der Linken die Mädchen." Sie warf einen Blick auf meinen Koffer. "Es gibt keinen Aufzug, aber zu zweit werden wir das Ding schon in den dritten Stock kriegen."

"Oh Gott", stöhnte ich und bereute, so viel eingepackt zu haben.

"Im Erdgeschoss findest du Gemeinschaftsräume. Aber du brauchst gar nicht versuchen, den Fernseher für dich zu beanspruchen. Die Fernbedienung löst jedes Jahr wieder Schlägereien aus. Wobei es besser geworden ist, seit die Schule ein offenes Wlan hat und wir Netflix gucken können."

Sie schob sehr selbstsicher andere Schüler beiseite, die sich zu einer Schlange aufgestellt hatten, um ebenfalls ihr Gepäck die Treppe hoch zu schleppen. Offenbar hatte sie hier einen hohen Status. Ich hatte wohl doch Glück damit gehabt, dass sie mich zuerst angesprochen hatte.

Gemeinsam schafften wir es tatsächlich, meine Sachen hinauf zu stemmen - wenn auch unter dem leisen Protest anderer, denen wir den Weg versperrten oder gegen deren Sachen wir stießen.

"Hier. Zimmer 314. Deine Zimmernachbarin scheint schon da zu sehen. Eva?" Rebecca klopfte nicht an, sondern ging einfach hinein.

Auf einem der Betten saß ein Mädchen mit raspelkurzem , schwarzem Haar und einer Brille, mit Gläsern so dick wie Flaschenböden. Sie ließ ihr Buch nur langsam sinken, ehe sie Rebecca ansah. Dann entdeckte sie mich und alles, was sie zu sagen hatte, war ein tonloses "Oh."

"Kassandra, das ist Eva Lang, Eva, dass ist Kassandra. Ich übernehme es einfach mal, sie herum zu führen. Du hast da sicher keine Lust zu, nicht wahr?"
Eva hob ihr Buch schon wieder an, als sie undeutlich "Klar, mach mal", murmelte.

The FoxWhere stories live. Discover now