Manche Kämpfe lohnt es sich wirklich nicht zu bestreiten, Dingo.

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„Annie, du hast einen Freund!"
Nina grinste mich neckend an.
„Witzig. Das war der Creep aus der U-Bahn und wirklich freundlich war der auch nicht."
Seufzend lehnte ich mich an die Wand. In wenigen Minuten würden wir die Filiale schließen und ich sehnte mich schon jetzt nach meinen Jogginghosen, einem Bier und einer Zigarette.
Erik war auf einer Arbeitsreise und würde erst in ein paar Tagen wieder nach Hause kommen.
Es sprach also nichts gegen einen ausgedehnten Abend auf dem Balkon mit ein paar Folgen meiner Serie auf dem Tablet. Er mochte es nicht, wenn ich wie ein, wie er es nannte „Assi" aus dem Balkon saß und mit Kippe und Bier dem Feierabend frönte.
„Gehen wir nach Hause, oder holt Erik dich ab?"
Nina hängte die letzten Kleidungsstücke auf Bügel und zog die Vorhänge der leeren Kabinen auf. „Der ist noch auf Geschäftsreise. Aber ja, ein bisschen frische Luft tut mir auch gut."
Ich sammelte ein paar Kleiderbügel auf, die ein Kunde in einer der Kabinen zurückgelassen hatte. Die Arbeit in dem Geschäft war geistig gesehen nicht besonders anspruchsvoll, aber machte mir trotzdem Spaß.
Die meisten Kollegen waren nett und der Teamzusammenhalt war toll.
Zwar passte es nicht zu meinem Studium, half mir aber gerade deswegen gut mich von der Uni abzulenken und den Kunden zu helfen freute mich auch immer.

Am nächsten Morgen stand ich früher auf und gönnte mir eine ausgedehnte Dusche.
Nur noch heute arbeiten, dann hatte ich bis Montag frei.
Ich hatte zuerst mit Erik geschimpft, dass er seine Geschäftsreise so doof gelegt hatte, obwohl es mir klar war, dass weder er noch ich wissen konnten, dass ich jetzt ein langes Wochenende haben würde. Jetzt fand ich es doch ganz entspannt die Wohnung einmal für mich alleine zu haben. Ich glättete mir die Haare und schminkte mich mit ein wenig Makeup und Wimperntusche und trug anschließend noch Lippenstift auf. Heute würde ein guter Tag werden, auch wenn Erik heute wieder aufgrund eines Seminars in den Bergen nicht erreichbar sein würde.
Das wusste ich.
Oder so.

Die Schicht verging, obwohl keiner meiner Lieblingskollegen da war, recht schnell und ich entschied, obwohl ich niemanden zum Quatschen hatte, zu Fuß nach Hause zu gehen.
Ich zog mir meine Kopfhörer über die Ohren und lauschte einer Playlist mit verschiedenen Metall- und Rockbands.
Wenn Bekannte erfuhren, dass ich harte Klänge den Pop- und Rapsongs vorzog, waren sie immer überrascht. Anscheinend sah ich nicht aus, wie sie sich den typischen Metaller vorstellten.
Für mich aber war das vermeintliche Chaos in der Musik immer beruhigend gewesen.
Je lauter der Sänger oder die Sängerin schrie, desto leiser wurden die fiesen Gedanken in meinem Kopf.
Gedanken über die Sinnhaftigkeit meines Studiums oder meine Zukunft.

Als ich zu Hause ankam, schloss ich die Tür auf, warf meinen Rucksack auf den Boden und machte das Licht an. Während SOAD über die einsamen Tage sangen, ging ich an den Kühlschrank, holte mir eine Dose Bier heraus und schlüpfte aus meinen Turnschuhen in meine Adiletten.
„Heute gibt es was Gesundes zu Abend."
Lachte ich und hob die geöffnete Dosen an meine Lippen. Ich trank zwei Schlucke und wandte mich zum Balkon, als sich plötzlich zwei Hände auf meine Schultern legten.
„Das glaube ich nicht."
Ich fuhr herum.
Zwei stahlblaue Augen sahen mich von oben herab an. Es dauerte zwei Sekunden, bis ich mich aus meiner Starre reißen und mich an den Selbstverteidigungskurs in der Grundschule erinnern konnte.
Beziehungsweise nicht erinnern konnte.
Hinschmeißen oder treten?
Kick in die Eier oder die Augen?
Ich duckte mich unter seinen Armen weg und versuchte zur Tür zu rennen, als mich schon ein Arm um der Taille festhielt. Ich fuhr herum und versuchte ihm meine Dose gegen den Kopf zu schlagen, doch er hielt mich mühelos am Handgelenk fest und grinste.
„Hallo Dingo."
Was?
Seine Hand war felsenfest um mein Gelenk gelegt, weshalb ich mit dem Bein ausholte und ihm zwischen die Beine trat. Er drehte sich gerade noch weg, sodass ich ins Leere trat und ins Taumeln geriet. Mit einer schnellen Bewegung stellte er sich wieder hinter mich und klemmte meine Arme an den Körper. Ich riss meinen Mund auf und holte Luft um zu schreien, als seine große Hand sich darüber legte.
„Pscht. Wir wollen doch niemanden wecken.", sein heißer Atem strich über mein Ohr.
„Ich bring dich nach Hause, Dingo. Wenn du dich wehrst, wird es nur schlimmer."
Nach Hause?
Ich versuchte mich zu winden und trat mit meinen Beinen ohne ihn auch nur einmal richtig zu erwischen.
„Spar dir deine Kräfte lieber auf. Du wirst sie noch brauchen.", er klang fast besorgt.
Während mein Herz so schnell schlug, dass es mir aus der Brust zuspringen drohte und der Schweiß mir aus allen Poren drang, zog er mich wie einen Sack zu einem Stuhl.
Mit wenigen Handgriffen fesselte er mich daran und ging dann vor mir in die Hocke.
„Wirst du wieder schreien?" Ich schüttelte den Kopf.
„Gut so."
Er erhob sich und sah sich im Wohnzimmer um.
„Hast du irgendwelche Medikamente oder sowas, was du brauchst?"
Ich nahm die Pille, aber das würde ich ihm bestimmt nicht einfach so mitteilen.
Was war das?
Sollte ich ihm helfen, mich zu entführen?
Er schnalzte mit der Zunge und hob seine Augenbraue.
„Also?"
Ich schüttelte den Kopf und sah woanders hin.
Er zuckte mit den Schultern und ging an mir vorbei. Als sich seine Schritte weit genug von mir entfernt hatten, zog ich die Luft ein und begann zu schreien.
Ich hörte ihn noch fluchen, bevor sich eine Hand um meinen Mund legte und sich etwas Spitzes in meinen Hals drückte.
Bevor ich das Bewusstsein verlor, hörte ich seine wütende Stimme.
„Manche Kämpfe lohnt es sich wirklich nicht zu bestreiten, Dingo."

Dingo (Teil 1)Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin