ANNIE

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Es war ein Mittwochnachmittag als ich ihn das erste Mal gesehen habe und der mein Leben auf den Kopf stellte.
Ich war auf dem Weg zur Arbeit und wieder einmal zu spät dran.
Zuhause hatte ich noch so lange an meiner Serie gehangen, dass als ich wirklich losmusste, nur noch Zeit hatte, meine Zähne zu putzen, mir meine wirren Haare in einen schnellen Dutt zu binden und mir Leggings und einen Oversized Pullover überzuwerfen.
 Für den eigentlich zehnminütigen Weg zur U-Bahn blieben mir noch vier, also klemmte ich mir meine Tasche unter den Arm und joggte los.
Ich durfte nicht zu spät kommen.
Klar, ich wusste, dass ich wahrscheinlich nicht mit Ärger oder sonstigen Konsequenzen zu rechnen hatte, aber zumindest in der Arbeit wollte ich pünktlich und zuverlässig sein, wenn schon der Rest meines Lebens eher chaotisch und konfus zu sein schien.
Als ich auf die Gleise zu lief, fuhr die U-Bahn bereits ein. Also nahm ich die Abkürzung über die Gleise der anderen Fahrtrichtung und suchte nach meiner Fahrkarte.
Doch im Chaos meiner Tasche fand ich alles, außer meiner Fahrkarte und als die Ansage des U-Bahnfahrers ertönte, sprang ich ohne zu stempeln in die Bahn und setzte mich in eine Vierernische. Es waren nur vier Stationen und da ich sonst nie schwarzfuhr, musste mein Karma mich einfach beschützen. Ich zog mein Headset aus meiner Tasche und setzte es mir auf.
Five Finger Death Punch dröhnte aus den Kopfhörern und mein Atem beruhigte sich langsam wieder. Ich hätte wirklich mehr Sport treiben sollen, aber neben der Arbeit in einem Kleidungsgeschäft, der Uni und meiner Beziehung, hatte ich weder Muse noch Kraft dafür.
Ich sah aus dem Fenster und rechnete. Sobald ich an der U-Bahnstation ankommen würde, hätte ich noch knapp fünf Minuten um in den Laden zu rennen, mich einzustempeln und dann pünktlich auf der Fläche zu stehen.
Knackig, aber nicht unmöglich.
Nächste Station musste ich raus.
Ich stand auf und stellte mich vor die Türen, als sich eine Hand von hinten auf meine Schulter legte.
Ich fuhr herum.
„Fahrkartenkontrolle. Ihre Fahrkarte, bitte."
Ein Mann um die 40 stand vor mir. Er lächelte mich an und streckte seine Hand aus.
„Ich muss aber hier raus." Meine Stimme zitterte mehr als es mir lieb war.
Das konnte doch nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt, wo ich weder Zeit noch Fahrkarte hatte. „Ich kann mit Ihnen aussteigen, dann zeigen Sie mir die Fahrkarte draußen. Kein Problem."
Sein Lächeln ließ nicht nach. Der Mann schien mir das Schwarzfahren nicht anzusehen.
Ich nickte und drehte mich zur Tür.
Sollte ich jetzt laufen?
Versuchen abzuhauen?
Nein.
Meine Mutter hatte immer gesagt, dass man immer zu seinen Taten stehen sollte und somit auch die Konsequenzen hinnehmen müsse. Das war eine der wichtigsten Regeln meiner Kindheit gewesen. Neben „Geh niemals mit einem Fremden mit" und „Deins ist deins und meins ist meins". Ich stieg aus und kramte in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel.
„Ich finde-", ich wollte gerade mit einer Erklärung ansetzen, als der Mann sich umdrehte und wieder in die U-Bahn stieg.
„Regen Sie sich ab oder ich muss die Polizei rufen!", seine Stimme war laut und an einen Mann in der U-Bahn gerichtet.
Er drehte sich noch einmal zu mir um: „Passt schon." Verwirrt blieb ich stehen.
War ich davon gekommen?
Wie?
Der Mann, mit dem der Kontrolleur geredet hatte, ließ sich auf einen Fensterplatz fallen.
Und starrte mich an.
Seine hellblauen Augen durchbohrten mich.
Als die U-Bahn abfuhr, zuckte sein Mundwinkel und er wandte sich ab.
Einen Moment sah ich der U-Bahn hinterher, dann drehte ich mich zur Treppe und rannte in die Arbeit.
Was war das denn gewesen?
Der Typ sah nicht schlecht aus, aber dieser Blick war so unheimlich, dass ich froh war, dass der Moment so schnell vorbeigewesen war. Ich wohnte schon immer in dieser Gegend und war an die ganzen Pseudogangster und sogenannten Assis gewöhnt, aber irgendwas ließ mir sein Blick trotzdem eine Gänsehaut über den Rücken laufen.

Ich hatte es tatsächlich geschafft pünktlich und nur leicht außer Atem auf der Fläche zu stehen, als meine Chefin mit den Mitarbeitern der Schicht ein kurzes Meeting abhielt und uns die neue Kollektion erklärte. Meine Kollegin Nina, ein süßes Mädchen mit dunkelbraunen Locken und riesigen Rehaugen, sah mich mit schief gelegten Kopf an.
„Bist du hier her gerannt?", flüsterte sie mir zu.
„Nee, ich habe die U-Bahn verpasst und dann wurde ich fast kontrolliert."
„Fast?"
„Ja, aber dann hat sich so ein creepy Typ anscheinend so aufgeführt, dass der Kontrolleur mich hat gehen lassen. Ich habe vorhin nicht mehr stempeln können, sonst hätte ich die U-Bahn verpasst."
„Creepy Typ?" Sie grinste. Sie liebte jede Art von Gossip, selbst wenn sie die Leute nicht kannte um die sich die Gerüchte drehten.
„Ja, ich habe das nicht wirklich mitbekommen, aber wie der mich angestarrt hat. Das war echt unheimlich!"
Ich schüttelte mich übertrieben.
Sie lachte. „Vielleicht hattest du was im Gesicht."
Ich stupste sie in die Seite und ging an ihr vorbei in die Anprobe.
„Sah er gut aus?"
Ich lachte und tippte mir gegen die Schläfe.
„Ich hab einen Freund, Nina."
Sie verzieht das Gesicht und hebt die Hände. „Gucken ist ja nicht verboten, oder?"

Die Schicht war angenehm. Es war nicht zu viel los, aber auch nicht zu wenig. Sodass ich immer etwas zu tun hatte, aber mich nicht stressen musste. Ich nahm eine Hand voll Kleidung von der Stange um sie zu verräumen und drehte mich um.
„Annie, kannst du mir kurz helfen?", Nina kam mir entgegen.
„Ich habe einen Kunden, der sucht nach einem Kleid. Ich glaube, dass ist aus deiner Abteilung.", „Klar. Wo ist er denn?", fragte ich sie und ging in die gezeigte Richtung.
Ein Mann stand mit dem Rücken zu mir auf einen der Shops gelehnt.
„Hey, wie kann ich Ihnen helfen?", trällerte ich freundlich.
Doch als er sich umdrehte, gefroren meine Gesichtszüge.
„Hey." Es war der Typ von vorhin. Doch er schien mich nicht zu erkennen und sah auf sein Handy.
„Ich brauche das hier." Er drehte den Bildschirm zu mir.
Ich atmete tief ein um mein schnellschlagendes Herz zu beruhigen.
Ich musste knallrot angelaufen sein, zumindest fühlte sich mein Gesicht an, als würde es kochen.
„Ah, das haben wir." Ich drehte mich von ihm weg und ging zu dem Shop, auf dem das Kleid hing.
„Welche Größe brauchen Sie denn?" Er sah mich prüfend an und wandte seinen Blick dann wieder auf den Bildschirm.
„38 oder 40 denk ich." Nina ging hinter dem Mann vorbei und legte ihren Kopf schief. Mit meinen Augen versuchte ich ihr zu sagen, wer der Mann war, doch anstatt zu verstehen, grinste sie nur und ging in die Kinderabteilung.
Während ich noch Grimassen schnitt, hob der Mann seinen Blick und sah mich an. Sein vorher schon sehr neutraler, fast gelangweilter Gesichtsausdruck wurde einige Stufen kälter und ich merkte, wie er eine seiner Hände zur Faust ballte.
„Brauchen Sie sonst noch was?", fragte ich ihn besonders freundlich.
Er musste denken, dass ich mich über ihn lustig gemacht hatte.
Er nahm mir das Kleid aus der Hand und sah mir dann wieder in die Augen.
„Noch nicht."
Er fuhr mit seiner riesigen Hand durch seine dunkelblonden Haare, schüttelte den Kopf und ging in die Richtung der Kassen. 

Dingo (Teil 1)Where stories live. Discover now