Kapitel 23

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Ich wache auf und schaue auf die Uhr. Es ist 7:13 Uhr und ein Dienstag. Mir fällt immer wieder auf, dass ich nicht mehr so viele seltsame Träume habe. Aber dafür schlafe ich viel weniger und werde von Schuldgefühlen heimgesucht. Ich hätte einige, von den jetzt verstorbenen Menschen, die ich geliebt habe, retten können. Die meisten sind im Kampf gestorben. Max und meine Mum, sie sind nur meinetwegen gestorben. Claire und Will habe ich ihrem Schicksal überlassen. Genau das gibt mir unerträgliche Schuldgefühle. Wie konnte ich nur so grausam sein? Was ist mit mir passiert? Meine Hände zittern und ich massiere mir meine Schläfen, um Kopfschmerzen zu vermeiden.

Ich setze mich auf einen Stuhl und nehme mir eine heilende Creme. Schon etliche Male habe ich Wundsalbe auf meine Wunde aufgetragen, aber sie verschwindet nicht. Es blutet nichts, es eitert nichts. Da ist nur ein tiefer Einschnitt auf meinem Oberschenkel. Dennoch schmerzt es. „Oh, Mia. Was hast du denn da gemacht.", erschreckt Emilia sich und zeigt auf meine Wunde, als sie sich zu mich gesellt. „Als wir den Wächtern Waffen stehlen wollten, habe ich mich an einem Nagel geschnitten und das kam dabei heraus.", präsentiere ich meine Wunde. „Tut es weh?" „Ja, sogar sehr oft. Aber meistens merke ich nichts von meiner Wunde. Das seltsame ist, dass sie so unreal aussieht." „Das stimmt. Es ist nur eine offene Wunde. Es hat sich noch keine Kruste gebildet.", stellt Emilia fest. Wegen meiner Wunde humpele ich ein wenig. Aber das hält mich von nichts ab. Ich sitze immernoch auf einem Stuhl und reibe meine Wunde sanft mit der Salbe ein. Emilia sieht mir aufmerksam dabei zu.

Bei dem Anblick von Emilia fällt mir wieder die gestrige Gruppenbesprechung ein. Wir haben über Claires Tod und über Emilia geredet. Der Tod einer Person ist schon immer ein unangenehmes Gesprächsthema für mich gewesen. Wie kann man nur so leichtfertig über solche Dinge reden? Mir hängt bei sowas immer ein Kloß im Hals.

Jetzt ist es schon Mittag. Ich habe Emilia das letzte Mal heute morgen gesehen. Sie sagte, sie müsse noch einen Brief abschicken. Ich sitze Heute schon zum zweiten mal an einem der Tische in dem Küchenabteil. ,,Was ist los? Du benimmst dich seltsam, Mia.", erklärt Julius, der sich gerade zu mich gesellt. Mit gesenktem Blick lüge ich ihn an: ,,Nichts. Es ist alles okay." Er zieht eine Augenbraue hoch und blickt mich schief an. Er glaubt mir nicht. Deshalb hebe ich mein Gesicht und versuche selbstbewusst auszusehen. ,,Wie du meinst.", meint er. ,,Ich gehe dann mal.", sage ich knapp und flüchte in einen dunklen, leeren Raum, dessen Wände aus groben Gestein besteht.

Ich lehne meine Stirn gegen die kühlen Steine und beiße mir auf die Lippe. Am liebsten würde ich jetzt laut los schreien, aber ich kann nicht. Sobald ich meinen Mund öffne kommt nichts. Kein Schrei. Kein Krächzer. Garnichts. Ich fasse mir in meine Haare und sinke zu Boden. Mein ganzer Körper zittert und mein Fußgelenk schmerzt wieder. Ich ziehe meine Hose etwas hoch und stocke. Ein halb Mond prägt mein Gelenk. Das Zeichen ist violett und sticht sofort ins Auge. Da mich dieses Zeichen beängstigt, ziehe ich mein Hosenbein wieder hinunter. In der Ecke in der ich sitze, sieht man nichts. Ich will nicht wieder aufstehen. Am liebsten würde ich dort nie wieder aufstehen. Ich will einfach nur sitzen bleiben.

Schritte kommen näher. Es hört sich danach an, als ob zwei Menschen kommen würden. Schlagartig verkrümme ich mich, mache mich klein und schließe meine Augen. Die Schritte kommen näher und näher und näher. Zuletzt erstarren sie in dem Raum, in dem ich sitze. Ich öffne kurz die Augen und sehe Luis und eine Frau. Sie wendet sich mit ihrem Rücken zu mir.

,,Luis.", sagt sie energisch und spricht weiter: ,,Was willst du mir sagen? Mach es schnell." Kylie! Es ist Kylie. ,,Es kann nicht Mia sein.", erklärt Luis ihr. ,,Wie meinst du das?", harkt sie nach. ,,Sie kann nicht eine der Liebenden sein. Einer von uns beiden ist es und einer nicht. Sie ist es nicht." Er holt tief Luft. ,, Ich liebe sie nicht." ,,Ich glaube dir, wenn du sagst, dass du sie nicht liebst. Aber wie kannst du dir sicher sein, dass sie nicht eine Liebende ist? Du könntest auch falsch liegen. Vielleicht ist sie die eine und du bist es nicht." Nach dieser Aussage schüttelt Luis stark den Kopf. ,,Nein, nein. Ich wusste schon immer, dass ich es bin. Es muss so sein. Ich habe mich mein ganzes Leben schon darauf vorbereitet. Ich weiß, dass sie es nicht ist. Aber wir dürfen es niemandem sagen, bis wir wissen, ob es wahr ist, was ich sage. Wir müssen herausfinden, ob jemand anderes die Liebende aus der Legende ist." ,,Luis, wie willst du beweisen, dass sie nicht die aus der Legende ist?", fragt Kylie. ,,Es gibt noch einen Teil der Legende. Aber dieses Stück ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Niemand weiß, wo es ist. Es gibt ein Buch über verlorene Legenden, die nirgends eingeordnet werden konnten. Es gibt nur ein einziges Exemplar. Wir müssen es finden. Aber zuerst müssen wir Mia finden. Komm mit, wir suchen sie." Er zieht Kylie aus den Raum. Ich kann nicht fassen, dass die Möglichkeit besteht, dass ich nicht die Liebende aus der Legende bin. Aber wenn ich es nicht bin, dann muss jemand anderes an meiner Stelle sterben. Das kann ich nicht zulassen. Ich kann nicht zulassen, dass jemand anderes als ich stirbt. Das wäre nicht gerecht. Erstens für Luis und zweitens für das Mädchen. Warum muss überhaupt jemand sterben? Ich verstehe das nicht. Es ist einfach vollkommen unlogisch.

Wächter-gefangenحيث تعيش القصص. اكتشف الآن