4. Abschnitt (24.7.4,5; aus der Sicht von Luci)

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Mama hat gesagt, ich darf mein Zimmer nicht verlassen. Sie sagt, ich bin nur sicher in diesem Zimmer. Sie kommt mich oft hier besuchen. Hier in unserem Zimmer. Sie bringt mir Essen und Trinken und Spielsachen. Bunte, bemalte Steine und Äste, einmal hat sie mir sogar eine kleine Holzpuppe mitgebracht! Die habe ich seitdem ganz doll lieb. Sie heißt Ronja.

Seit ich denken kann bin ich in diesem Zimmer. Aber es ist nicht so als wüsste ich nichts von der Welt da draußen. Mama hat mir ganz viel erzählt, von den Tieren, von den Menschen, von den Dämonen, von der Stadt. Außerdem habe ich ein kleines Fenster über meinem Bett. Ich muss mich auf mein Bett stellen um durchsehen zu können. Mein Zimmer liegt zum größten Teil unter der Erde.

Vor dem Fenster sind Eisenstangen, damit niemand rein kann.

Durch das Fenster habe ich ganz oft in den Wald gesehen. Da sieht man oft Ameisen und Mäuse und Kaninchen und Vögel. Einmal habe ich sogar ein Wildschwein gesehen! Das war riesig! Und die Vögel, die auf ihrem Rücken Flügel haben, so wie ich, sie singen jeden Morgen. Manchmal singe ich auch. Wenn Mama am Morgen da ist, dann singt sie auch manchmal mit. Aber Mama ist nicht mehr so oft da. Früher hat sie mir jeden Abend eine Geschichte erzählt, von der Welt da draußen. Sie hat mir alles erzählt was ich wissen wollte. Über die Menschen die in der Stadt leben und die alle böse sind, über die Vögel, die im Winter weg fliegen, über schwarze Magie und über Samjiva. Jetzt kommt Mama manchmal mehrere Sonnengänge lang nicht in mein Zimmer und dann wird mir langweilig und ich habe großen Hunger. Und abends, wenn Mama nicht da ist, dann rede ich mit Ronja und erzähle ihr alle Geschichten, die Mama mir erzählt hat. Manchmal erfinde ich auch Geschichten für Ronja.

In manchen Nächten, immer dann wenn der Mond ganz rund ist, liegen ich und Ronja wach und hören wie jemand da unten schreit. In solchen Nächten ist Mami nie da. Mami hat mir erzählt dass sie dann nicht da sein kann weil sie mithelfen muss. Sie muss helfen eine Seele zu opfern. Eine Menschenseele. Sie sagt, die Menschen wohnen in der Stadt, in Häusern. Häusern aus Stein, nicht so wie mein Zimmer aus harter Erde. Häuser aus Steinen wie die, die Mama mir manchmal mitbringt. Nur viel grösser und glatter und meistens grau. Und immer wenn der Mond ganz rund ist, dann geben die Menschen Samjiva eine Seele. Das habe ich noch nicht ganz verstanden. Samjiva ist die Vereinigung von allem was dunkel ist. Sie wird angeführt von Leviathan, unserem Meister. Ich habe ihn noch nie gesehen.

Mama hat gesagt, dass die Menschen durch uns dafür bestraft werden, dass sie so feige sind und sich gegenseitig hintergehen und betrügen. Ich verstehe sie nicht. Ronja versteht das auch nicht. Wenn Mama über Menschen redet, regt sie sich furchtbar auf. Sie hat gesagt, Menschen sehen so ähnlich aus wie ich und sie. Nur dass Menschen keine Flügel haben. Mama hat auch keine Flügel, nur ich. Mama ist ein Mitglied von Samjiva. Deshalb trägt sie auch immer schwarze Tücher. Alle Mitglieder von Samjiva tuen das. Ich trage auch immer schwarze Tücher auch wenn ich noch kein Mitglied von Samjiva bin.

Mama hat gesagt wenn ich groß bin, dann werde ich auch dazu gehören. Ich muss 8 Sandkörner alt sein. Also muss ich nur noch 5 und ein halb Sandkörner älter werden.

Ein Klopfen an der Tür. Ronja und ich kauern vor meinem Bett und blicken zu der schweren, zugeschlossenen Holztür. Mama? Aber Mama kommt mich nie besuchen, wenn der Mond ganz rund ist und heute ist der Mond ganz rund. Heute wird wieder jemand schreien. Aber was wenn das da vor der Tür nicht Mama war, sondern eines von diesen Wesen von denen Mama mir erzählt hatte. Dämonen und Geister und Skelette und Wölfe. Mama hatte mir viele Geschichten erzählt von den verlorenen Seelen, die hungrig auf dieser Welt wandelten. Und ernähren tuen sich diese Wesen von kleinen Mädchen wie mir!

Aber Mama hatte mir auch gesagt, dass keines dieser Wesen jemals in mein Zimmer kommen würde, weil Mama mein Zimmer verzaubert hatte. Die Tür öffnet sich. Ich halte Ronja ganz fest. Ich habe ein bisschen Angst. Ich habe immer Angst wenn der Mond ganz rund ist. Die Schreie machen mir Angst. Mama hat gesagt ich muss keine Angst davor haben. Aber das habe ich trotzdem. In der Tür steht eine dunkle Gestalt. Ausgerechnet in der Nacht der gruseligen Schreie. Für einen Moment bin ich erschreckt. Dann erkenne ich Mama. Wer sollte das auch sonst sein? Mama sieht mich nicht an. Sie sagt nicht mal „Hallo". Sie starrt nur distanziert in die Ferne. Das macht sie oft. Ich mag es nicht, wenn sie das macht. Behutsam lege ich Ronja auf mein Bett. Am liebsten würde ich Mama jetzt umarmen. Aber Mama streckt ihre Hand aus, ich soll sie nehmen. Sie sieht so abwesend aus. „Komm Luci" Schweigend laufe ich zu ihr und nehme ihre Hand. „Ich hab dich vermisst Mami". Sie reagiert nicht. Ich bin trotzdem froh sie zu sehen. Schweigend führt sie mich aus meinem Zimmer. Ich frage mich, ob sie mich nach draußen führt. In den Wald. Auf die Lichtung die ich immer durch mein Fenster beobachtet habe. Da wäre ich jetzt gerne. Dort wollte ich schon immer gerne sein. Mama hat gesagt sie hat mich auf dieser Lichtung gefunden, als ich noch ganz klein war. Noch kleiner als jetzt.

Ich achte nicht wirklich auf den Weg vor oder hinter mir, um mich herum. Mama führt mich durch einen langweiligen grauen Flur. In Gedanken bin ich da, wo Mama jetzt auch in Gedanken ist. An den Ort, wo Mama mich hinführt. Nur dass Mama schon weiß wo dieser Ort ist und was wir dort machen werden. Ich träume nur davon. Eine steile Treppe nach unten, noch tiefer unter der Erde als mein Zimmer, dann noch ein grauer Flur mit kalten, feuchten Wänden, Fackeln an den Wänden und leuchtende Augen, die mich aus der Dunkelheit ansehen. Alles ist total gleich. Warum geht Mama nicht mit mir nach draußen? Noch weiter nach unten. Und noch weiter nach unten. Der Raum, wo wir schließlich stehen bleiben ist komplett von Fackeln erleuchtet. In der Mitte ist ein großer Stein. Als wir stehen bleiben fällt mir auf dass die Luft stinkt. Sie riecht alt und nass. Aber das Feuer knistert schön. Das ist alles so aufregend! Ich weiß noch als Mama mir mal etwas Heu mitgebracht hatte von draußen, und dann durfte ich es anzünden. Das war auch super spannend. Ich kann kaum still halten. Ich traue mich nicht Mama zu fragen, was wir hier machen, während sich der Raum langsam mit dunklen Gestalten und Schatten füllt. Ich kann ihre Gesichter nicht sehen. Einige scheinen nur aus dichtem schwarzem Rauch zu bestehen. Sie stellen sich in einen Kreis um den großen Stein.

Mama merkt wie aufgeregt ich bin und sagt mir ich soll still sein. „Hab doch gar nichts gesagt" will ich sagen, aber ich traue mich nicht zu sprechen. Neben mir steht eine sehr stämmige Gestalt, die laut atmet. Sie riecht dreckig und nach Wald. Viele der Gestalten murmeln unverständlich vor sich hin, vielleicht sprechen sie auch miteinander. Mama redet kurz mit der Gestalt neben mir. Ich verstehe nicht ganz worüber sie reden, aber Mama nennt ihn Isegrimm. Isegrimm hat ein Gesicht, so wie ich und Mama. Aber um seinen Mund herum wachsen wirre, ungebürstete Haare. Aber davon hat Mama mir erzählt. Das haben manche Männer. Das nennt man Bart. Die Haare auf seinem Kopf hatte er auch nicht gebürstet und er ist dreckig. Er riecht auch so als hätte er lange nicht geduscht. Ein Mann tritt in die Mitte der Schatten und es wird plötzlich still. „Das ist Leviathan. Unser Meister" flüstert Mama mir zu. Ihre Stimme ist anders als sonst. Sie klingt ängstlich und angespannt. Was ist das für ein Mann vor dem Mami Angst hat? Der Mann trägt schwarze Tücher. Alle hier tragen schwarze Tücher.

Mama hat sagt, die Menschen in der Stadt tragen nie schwarze Tücher. Aber wir immer. Eine der Gestalten schubst einen Mann zu Leviathan in die Mitte. Seine Arme und Beine sind gefesselt. Natürlich mit schwarzen Tüchern. Sonst trägt er gar nichts. Ich muss kichern.

„Mami! Der ist ja Nakidei!" Mama fasst mich am Arm. Sie will dass ich still bin. Sie hält meinen Arm so fest, dass es weh tut. Aber ich wehre mich nicht. Sie hat Angst. Sie starrt diesen Mann an, der jetzt auf dem großen Stein liegt. „Kennst du ihn?" frage ich ganz leise. Im gleichen Moment merke ich, dass ich nicht hätte fragen sollen. Mama antwortet nicht aber ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass sie ihn kennt. So guckt sie immer, wenn sie mir eine Geschichte erzählt von früher als sie noch bei den Menschen war. Irgendetwas sagt mir, dass sie mir diese Geschichte nicht erzählen wird. Ich betrachte den Mann genauer. Verschwitzte, schulterlange, dunkle Haare. Er schwitzt am ganzen Körper obwohl es hier eigentlich ziemlich kalt ist. Ich werde wohl nie wissen, woran Mama sich gerade erinnert.

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