1.Wir überfahren beinahe einen Typen und kommen leider nicht nur beinahe zu spät

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1. Kapitel
Wir überfahren beinahe einen Typen und kommen leider nicht nur beinahe zu spät

Mary

Obwohl Vanna und Jamie meinen, dass mein Zimmer schon immer unglaublich leer und aufgeräumt gewesen ist, wirkt es wie leergefegt, als ich einen letzten Blick durch den Raum wandern lasse, in dem ich einen Großteil meiner neunzehn Lebensjahre zugebracht habe. Plus die drei Monate, die ich jedoch mehr mit Packen und vorbereiten beschäftigt gewesen war. Mein Blick wandert von dem abgezogenen Bett über den leeren Schreibtisch bis zum Bücherregal, in dem jetzt nur noch die Buchreihe steht, die Audy mir zu meinem Geburtstag geschenkt hat. Sie behauptet zwar, sie hätte nicht geahnt, dass es Erotikrromane waren, doch der Blick den sie aufgesetzt hatte, als ich das Geschenk ausgepackt habe, sagte etwas anderes.

Ob sie es nun gewusst hat oder nicht, es sind die einzigen drei Bücher die ich weder mitnehmen kann - ich kann nicht riskieren, dass mein Onkel sie findet, wenn ich bei ihm und seiner Familie einziehe - noch wollte ich sie verschenken. Und Audy wollte sie auch nicht zurücknehmen. Sie meinte, ich könne sie ja noch brauchen. „Zur Inspiration". Ich hatte beinahe überlegt sie Jochen zu schenken, (er und Audy sind zwar kein Paar, aber meine Hoffnung stirbt zuletzt), doch das hätte ihn vermutlich zu sehr verstört.

Ich ziehe die Vorhänge zu und schließe damit die letzten Sonnenstrahlen des Tages aus. Obwohl ich mich entschieden habe, im Wintersemester mit meinem Studium zu beginnen scheint die Sonne nicht zu wissen, dass ihre Tage gezählt sind und die Wettervorhersage Regentage verspricht.

„Mary, jetzt komm schon!," höre ich meine Freundin Jamie von unten rufen. „Du wirst dein Zimmer schon noch irgendwann wiedersehen." Ich seufze, folge aber ihre, Ruf und schließe meine Zimmertür hinter mir.

Meine Mutter hat unser Auto schon vollbeladen. Mithilfe von meinem Vater, Jamie und ihrem Freund Arthur haben sie es sogar geschafft meine Büchertasche auf die Hinterbank zu wuchten.

„Da bist du ja," sagte Jamie und klopft mir aufmunternd auf die Schulter als ich, mit meinem Rucksack, aus der Haustür trete. „Deine Mutter sagt, ihr müsst jetzt bald los, sonst kommt ihr in den Feierabendverkehr.

„Ich weiß," murmelt ich. „Sie redet ja seit Tagen von nichts anderem. Meine Tante und mein Onkel werden uns schon nicht umbringen, wenn wir nicht um Punkt halb acht bei ihnen aufkreuzen."

Jamie lacht. Doch meine Mutter, die mich gehört zu haben scheint, ruft: „Mein Bruder wird dich nicht umbringen, aber wir wollen uns noch die Abendveranstaltung an der Hochschule ansehen und da möchtest du bestimmt nicht zu spät kommen."

Und da hat sie leider recht. Ich möchte unter keinen Umständen etwas verpassen, schließlich habe ich alles daran gesetzt im Studiengang zum Tanzen angenommen zu werden. Ich habe mich so lange auf die Eignungsprüfung vorbereitet, dass es lächerlich scheint, beim Eröffnungsabend zu spät zu kommen.

„Ihr kommt schon nicht zu spät," meint mein Vater und gibt meiner Mutter einen beruhigenden Kuss auf die Wange. „Es ist genügend Zeit eingeplant."

Jamie, die immer noch neben mir steht dreht sich zu mir um. In ihren Augen liegt ein merkwürdiger Ausdruck. Ich weiß, dass Jamie nicht gerne Trauer zeigt, doch jetzt sehe ich kurz eine Träne ihre Wange hinunterrollen, bevor sie mir die Arme um den Hals wirft.

„Erst Vanna und jetzt auch noch du," flüsterte sie beinahe vorwurfsvoll in meine Schulter. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellen würde, könnte ich meinem Kinn auf ihrem Kopf ablegen. Was ich wohlwissend nicht tue, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Arthur der einzige ist, der das darf.

Mary - Eine Geschichte in Lila und GrünWhere stories live. Discover now