The dark lady

6 0 0
                                    

Desorientiert sah ich mich in der Straße um, auf der ich gelandet war. Ein Zeitsprung? Wie konnte das passieren, ich war doch seit Monaten nicht mehr durch die Zeit gereist, und schon gar nicht ungeplant! Ich kniff die Augen irritiert zusammen und sah auf mein Armband, während ich meinen Arm leicht schüttelte, als könnten Zeitreise Armbänder einen Wackelkontakt haben.
„Frisches Gemüse!", hörte ich einen Mann schreien, was mich aus meiner Irritation aufschreckte, und dazu brachte, mich umzusehen. Ich schien mich auf einem Marktplatz zu befinden, aber... im Mittelalter?
„Feinste Töpferware, alles, was das Herz begehrt!", rief ein Mann hinter mir.
„Nein danke", murmelte ich.
Das Mittelalter? Wie hatte das passieren können? Ich betrachtete die Klamotten der Leute um mich herum genauer.
Die Männer trugen diese sonderbaren Plumphosen und die Frauen hauptsächlich einfache Kleider in beige- und Grautönen oder vereinzelt auch weite, bunte Röcke (vermutlich Adlige).
Wie konnte ich bei meinem Zeitsprung im Mittelalter gelandet sein? Das war so ziemlich die einzige Zeit, mit der ich mich noch nie beschäftigt hatte! Ich hatte nie Game of Thrones gesehen, nie Ken Follett gelesen, ich erinnerte mich nur, mit meinem Bruder mal Robin Hood und The Princess Bride geguckt zu haben, aber da endete meine Expertise.
Was, wenn hier jemand die Pest hatte? Oder andere eklige Krankheiten, die bei uns längst ausgerottet waren?
„Wollt Ihr jetzt etwas kaufen oder nicht?", fragte der Gemüsemann und musterte mich entweder verwundert oder verächtlich.
Meine Lederjacke gehörte hier auch nicht gerade hin, und mit den zerrissenen schwarzen Jeans hielt er mich wahrscheinlich für eine Bettlerin.
Ich schüttelte den Kopf.
Wie kam ich nach Hause?
„Was hast du gerade zu mir gesagt?"
Ich zuckte zurück, als ein junger Mann neben mir unvermittelt sein Schwert zückte, und es gegen einen anderen Mann richtete.
Oh ja, Schwertkämpfe auf offener Straße waren  zu diesen Zeiten ja noch Alltag.
Ich wich ein paar Schritte zur Seite, als die beiden jungen Männer direkt vor mir und allen anderen zu fechten begannen.

Einer der zwei hatte schulterlange dunkle Haare, er schien besser mit dem Schwert umgehen zu können, als sein Gegner. Ihre Ausweichtechicken waren trotzdem schlampig, aber was wusste ich denn schon, ich hatte alles über das Fechten im 18. Jahrhundert gelernt und nichts über diese Zeit.
Der Junge mit den braunen Haaren stach dem anderen ins Bein, woraufhin dieser zu Boden fiel, und keiner ihm weitere Aufmerksamkeit schenkte. Und ich dachte immer, alle würden übertreiben damit, dass das Mittelalter brutal war...

„Guten Tag meine Dame, wie kommt es, dass eure Augen nur auf mich gerichtet sind?"
Verblüfft sah ich zu dem Jungen, der gewonnen hatte, der jetzt auf mich zugekommen war.
„Entschuldigung, ich wollte nicht stören", erwiderte ich und war drauf und dran, die Flucht zu ergreifen, als er mein Handgelenk packte.
„Verzeiht, Miss, ich..." er zögerte und ich folgte seinem Blick. Seine Augen waren auf meine Kleidung gerichtet.
„Woher kommt ihr, dass ihr in solch merkwürdigen Kleidern herumlauft?"
„Von weit her." ich wusste nicht, was ich noch erwidern sollte, am besten gar nichts weiteres, denn wer wusste, ob er eine wichtige Person des Mittelalters war.
„Wie unhöflich von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Will."
Unweigerlich wanderte seine Hand von seinem Handgelenk zu meinen Handrücken und er küsste ihn leicht.
„Mein Name ist Claire", erklärte ich und dachte zu spät darüber nach, ob die Franzosen in dieser Zeitepoche gerade beliebt waren oder mit England im Krieg standen, denn ich wusste es beim besten Willen nicht.
„Claire wie das Licht? Trotz eurer dunklen Haare und schwarzen Kleidern?"
Ein wenig peinlich berührt sah ich noch einmal mein unpassendes Outfit an und fuhr mir durch meine unordentlichen Locken.

In diesem Moment sah ich aus dem Augenwinkel, wie Wills Gegner von vorher wieder aufstand, und ihn von hinten angreifen wollte.

Ohne darüber nachzudenken, schnappte ich mir den Degen aus seinem Gürtel und blockte gerade noch den Schwerthieb des anderen Mannes ab, bevor er Will von hinten treffen konnte, woraufhin dieser sich erschrocken umdrehte.
Wow, dieses Schwert war schwer, also die im 19. Jahrhundert waren leichter zu halten - oder war ich einfach nur aus der Übung?
„Ein kleines Mädchen? Du solltest dich aus solchen Dingen heraushalten", sagte der Angreifer arrogant, woraufhin ich die erstbeste Attacke ausprobierte, die mir in den Sinn kam.
Der Mann parierte, und ging wieder in den Angriff über, aber mein Bruder war ein eindeutig würdigerer Fechtgegner, und in wenigen Schritten, begleitet von dem lauten Geräusch von Metall auf Metall, schaffte ich es, meinem Gegner mit Wills Säbel auf den Kopf zu schlagen, sodass er auf dem dreckigen Boden zusammensank.
Ungläubig sah Will mich an.
„Wo habt ihr gelernt, mit dem Schwert umzugehen?"
Ich lächelte ihn an, und wollte gerade dazu ansetzten, ihm von meinem Bruder zu erzählen, als ein bekanntes Gefühl einsetzte. Ich musste los.
„Es war schön, Euch kennenzulernen, Will!", erklärte ich, entschuldigend lächelnd, und bewegte mich dann so schnell es ging hinter eine Hauswand, während er mir hinterherrief:
„Euch auch, meine dunkle Dame!"

Ein paar Sekunden später hatte mich das 21. Jahrhundert wieder. Ich war in einer Wohngegend gelandet, irgendwo in London, wobei mir die teuren Autos verrieten, dass ich wieder in der richtigen Zeit war.
Was hatte Will am Ende gesagt?
Dunkle Dame? Das kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte es nicht ganz zuordnen.
Auf jeden Fall würde ich gleich zuhause über meine Begegnung mit dem Mittelalter erzählen.
Nach einem Blick auf Google Maps stellte ich fest, dass ich nur ein paar Minuten gehen und die Themse überqueren müsste, um in die City of London und damit zu meinem Bruder nach Hause zu gelangen, also machte ich mich, immer noch ein bisschen wacklig auf den Beinen von meinem Sprung zurück in die Gegenwart, auf den Weg.
Ich war kaum 100 Schritte unterwegs, als ich in der Park Street eine Plakette entdeckte, die mir unter normalen Umständen gar nicht aufgefallen wäre: Original Site of Shakespeare's Globe Theatre.
Die dunkle Dame... war die nicht aus Shakespeares Sonetten?
William Shakespeare... Will...
Konnte es sein?

Kurzgeschichten 2019Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt