Der letzte Kuss

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Wie viele Filme kennt ihr, die mit einem Kuss enden? Nachdem den beiden Hauptpersonen Hindernisse über Hindernisse in den Weg gelegt worden, sie alle überwunden haben, endlich zusammengefunden haben, wie viele Filme enden mit einem leidenschaftlichen Kuss, bei Sonnenuntergang oder doch mitten im Regen, bevor der Bildschirm dunkel wird und der Abspann beginnt?

Westminster, 25. Dezember 1895
Es war das erste mal seit langem, dass es schneite. Wir stoppten die Pferde direkt vor einem großen Tor und für einen Moment war unser Blick auf das herrschaftlich große Haus gerichtet, an dem Jack aufgewachsen war.
„Whitechapel ist schon reizvoller." Ich wusste, er wollte erneut seinen Sarkasmus heraus hängen lassen, aber ich wusste auch, dass etwas anderes hinter diesem Satz steckte.
Es war Weihnachten, mein erstes Weihnachten mit ihm. Die Schneeflocken fielen, als wären wir persönlich im Nussknacker gelandet. Die Straßen waren von den bunten Lichtern, der geschmückten Tannenbäume erhellt und hinter  jedem Fenster konnte man eine glückliche Familie sehen. Trotzdem war der kalte Wind das Einzige, was meine Aufmerksamkeit bekam. Ich hatte das Gefühl, dass ich schon einmal hier war, und dass dieser Tag nicht gut enden würde.

„Lass uns zurück reiten" Seine Hand wanderte vorsichtig zu meinen Oberschenkel, dessen nackte Haut nur von einer mir nun viel zu dünn vorkommenden dunkelblauen Reithose aus dem 21. Jahrhundert verdecke war.
Ein Kribbeln lief mir den Rücken runter.
Ich hoffte inständig, dass ich nicht rot angelaufen war und wenn es doch geschah, lag es natürlich nur an der Kälte.
„Wer zuerst zurück in Whitechapel ist!" Jack wirkte wie ein aufgeregtes Kind und mit diesem Satz merkte er hoffentlich, dass es doch sinnvoller war, dass ich mein eigenes Pferd geritten war und mir nicht eins teilen musste.
Ich wunderte mich ein wenig, wieso er mich zu dem großen Haus in Westminster geführt hatte, wenn wir nun sowieso wieder zurück ritten, aber vielleicht hatte Jack einfach Lust auf einen Ritt ohne wirkliches Ziel gehabt.

Um nach Whitechapel zu gelangen, mussten wir erst einmal durch Covent Garden, dann durch den Ort, den man in meinem Jahrhundert City of London nannte.
Mir fiel auf, dass Jack anders ritt als sonst; er saß nicht so gerade, sondern eher ein wenig vorn übergebeugt, was ganz untypisch für ihn war, da seine Haltung wenn ich ihm vorher begegnet war immer sehr gut gewesen war.
„Ist alles in Ordnung?", fragte ich, als wir uns unseren Weg über die verschneiten Pflastersteine bahnten.
„Na klar, Claire, wieso fragst du? Glaubst du, so ein bisschen Kälte macht ausgerechnet mir etwas aus?"
Ich schüttelte den Kopf. Die Kälte hatte ich nicht gemeint.
Jack gab mir eins seiner verschmitzten Lächeln. Es war die Art von Lächeln, die einen alles glauben und alles vergessen ließ.

Erst nach einen 20-minütigen Ritt bekam man die Gelegenheit, in den düstersten Stadtteil Londons einzutauchen.
Hier war nichts mehr von den geschmückten, harmonisch wirkenden, beleuchteten Straßen übrig.
Als wir vor Jacks Wohnung ankamen, versuchte sich gerade eine betrunkene Prostituierte mit einem Streichholz warm zu halten.
Sie tat mir leid, aber wie könnte ich ihr schon helfen?
„Kommst du, Claire?" Der Gestank war ein weiterer Faktor, der diesen Stadtteil von den wohlhabenden Vierteln Londons unterschied. Alles wäre so viel einfacher, wenn Jack einfach mit mir im 21. Jahrhundert leben würde... wenn er das denn wollen würde. Immerhin waren wir nicht einmal zusammen.

Wie ein Mann schwang ich mich breitbeinig vom Pferd, band meinen weißen Hengst an die flackernde Laterne an und huschte in Jacks mehr oder weniger warmes Heim.
„Möchtest du etwas essen oder trinken? Ich hab nicht wirklich etwas da außer diesem unglaublich überteuerten Scotch, den ich in einem dieser reichen Salons mitgehen lassen habe."
Er ging ohne seinen Mantel auszuziehen ins Wohnzimmer und holte den Scotch und zwei Gläser heraus. Ich selbst legte meine Jacke auf sein abgewetztes Sofa und setzte mich dann selbst daneben.
Im Kamin lagen noch die Überreste eines Feuers, das er vor unserem Ausritt gemacht hatte, weshalb auch die Restwärme noch da war.
Jack schob mein Scotchglas zu mir rüber und nahm dann einen Schluck von seinem eigenen, wobei sein Blick weder mir noch sonst etwas in diesem Raum zu gelten schien, sondern an einem ganz anderen Ort verweilte.
„Warum ziehst du deinen Mantel nicht aus?
Irgendwie irritiere mich die Tatsache, dass er den Mantel drinnen trug, denn die Profilerin in mir wusste, dass etwas nicht stimmte. Nach einer Zeit gewöhnte man sich daran, Dinge zu bemerken, die unterschwellig falsch waren.
„Er steht mir einfach sehr gut, weißt du."
Dieses Mal ließ ich mich von seinem selbstbewussten Grinsen nicht täuschen.
„Jack, was ist es?"
Seine dunklen Augen kamen zurück von wo auch immer sein Blick vorher geruht hatte, und fixierten mich nun eindringlich.
Er hatte so schöne Augen; von weitem sahen sie einfach nur braun aus, aber selbst im schwachen Kerzenlicht in seinem schlecht beleuchteten Wohnzimmer könnte man, wenn man sie von ganz nahem sah meinen, man hätte das Bernsteinzimmer darin wiederentdeckt.

„Du weißt, ich verdiene mein Geld nicht legal, Claire", begann er, und die Beunruhigung in mir wuchs, als hätte sie von dem Kuchen in Alice im Wunderland probiert.
Das wusste ich doch schon, worauf wollte er hinaus?
„Ein Kollege von mir, naja, eher ein Bekannter, er hat seinen Unterhalt damit gemacht, in die Häuser reicher Leute einzubrechen. Er ist jetzt tot, sie haben jemanden geschickt, ihn umzubringen, alleine, in irgendeiner dunklen Gasse."
Die Geschichte ließ meine Atmung schneller werden, denn auch wenn ich den Mann, von dem Jack sprach nicht gekannt hatte, so machte mir etwas in seiner Stimme mehr Angst als die eigentliche Erzählung.
Ich nahm seine Hand; die, an der er den Ring mit dem Rosenquartz trug, und beugte mich zu ihm vor.
„Claire?" Er drückte meine Hand fest, und auf einmal waren seine Augen nicht mehr wie Bernstein, sondern wie weißes Phosphor, welches die selbe Farbe hatte, aber sich darin unterschied, dass es sich durch jedes Material durchfraß, so wie mich Jacks Augen nun mit einer fast unerträglichen Mischung aus Leidenschaft und Trauer durchbohrten.
„Ja?" meine Stimme war ein Flüstern.
„Küss mich."
„Was?" Fast hätte ich gelacht, da ich die Situation nicht verstand. Natürlich war es mein Wunsch gewesen, ihn zu küssen, seit ich ihn an dem kalten Herbsttag vor (laut der Zeit, wie sie für dieses Jahr ablief) drei Monaten kennengelernt hatte, aber die Stimmung war nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hätte.
Einen Kuss mit Jack hätte ich mir spontan ausgemalt, vielleicht irgendwo auf einer eleganten Party von einem seiner reichen Bekannten, oder auch ganz einfach in der Mitte eines gelungenen Abends bei ihm zuhause, aber nicht, nachdem er sich so sonderbar verhalten und mir eine merkwürdige, düstere Geschichte erzählt hatte.
„Jack, ich weiß nicht" Unsicher stand ich von seinen Sofa auf und fixierte mich auf eine Fotografie, die über sein Kamin stand, sie zeigte eine ältere Dame.
„Glaubst, ich würde das hier nicht tun, wenn ich das nicht ernst meinen würde?" Ich drehte mich nicht um, meine Augen waren ganz alleine auf dieses Bild gerichtet. „ Als ich 17 Jahre alt war, tauchte ein wunderschönes Mädchen auf den Ball meiner Eltern auf" er war aufgestanden „Sie hatte ein grünes Samtkleid an, dass perfekt zu ihren funkelnden Augen passte" Ich spürte seinen Atem in meinen Nacken und mein Herz schlug schneller. " Es war Weihnachten und sie küsste mich, als wäre es ihr letzter Kuss" er fasste meine Schulter und drehte mich um und für eine kurze Sekunde, standen wir einfach so dar. Ich wusste vorauf er hinaufwollte, ich hatte eine Vorahnung. „Das warst du" mit diesen Worten packte er mich an meiner Hüfte und schleuderte mich in den goldenen Sessel, der hinter mir stand. Voller Begierde griff nach meinen Hinterkopf und unsere Lippen trafen aufeinander.

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