Jack the Ripper

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Westminster, 25. Dezember 1876

Die Nacht war die perfekte Weihnachtsnacht: Kalt und von Schnee überzogen. Die Lichter aus dem Schloss brachten den Schnee zum Glitzern, als wären es kleine Kristalle, die gleich in die Luft flogen, um den berühmten Schneeflockenwalzer zu tanzen. Doch dieser war noch nicht erfunden, Tschaikowski würde erst in einem Jahr die Uraufführung von Schwanensee aufführen lassen, und das auch noch zu eher mäßiger Begeisterung des Publikums. Keinen Geschmack, die Leute von 1877.
Die Balkontür öffnete sich. Man konnte sehen, wie das Licht der Räume sich in ihrem dunkeln grünen Kleid sammelte und es zum Glänzen brachte. Sie sah aus wie eine Prinzessin und nicht, wie ein normales Mädchen des 21. Jahrhunderts. Auch der Frack ihres Begleiters schimmerte im Licht der lachenden Gesellschaft.

Mit einem breiten Grinsen wirbelte er sie im Schnee herum. Ihre Gänsehaut wurde von ihren schwarzen Samt Handschuhen überdeckt.
Für beide schien es, als würde die eisige Kälte nur die Ästhetik des Abends unterstützten, als wäre es nur ein Symbol für die Weihnachtsnacht. Ihr Gewirbel verwandelte sich in einen ruhigen, aber sehr eleganten Tanz.
„Claire." Sie stoppten und ihr Herz schlug zum ersten Mal seit Jahren wieder schneller. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte.
„Jack?" erwiderte sie leise, mit dem Wissen, dass ihre kleine Wohnung in Shoreditch niemals ausreichen würde, um aktzeptal genug zu sein, um ihn wirklich lieben zu dürfen, zumindest in dieser Zeit. Außerdem stammte sie nicht aus einer Adelsfamilie, also würde sie für einen Mann seines sozialen Standes niemals genug sein können. Und dann war da noch die Sache, dass sie eigentlich ein Leben im 21. Jahrhundert hatte.
Claire konnte nicht aufhören, seine dunkel blonden Haare zu bestaunen, wie dick sie damals noch gewesen waren.
„Was ist, Jack?" Die Schneeflocken fielen so leise und ohne jegliche Anstrengung, sie wollte ein Leben haben, dass so war, aber das konnte sie nicht. Ihr Leben glich eher einem Blizzard, sie wusste nie, wohin der Sturm sie als nächstes bringen würde, und die Geschwindigkeit würde nie wirklich niedriger.

Ohne Vorwarnung umschlang er mit seinen Händen ihre Hüften und zog sie so näher ansich, sodass sie sich nicht mehr traute zu atmen. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie Angst hatte, in ihrem Korsett zu ersticken. Sie sah ihm einfach nur in die Augen. Sie waren so tief blau, genauso wie sein Blut es, in den Augen der anderen Gäste, war. Der Sohn eines angesehenen Lords.
„Küss mich", entfuhr es ihr und er ließ nicht lange darauf warten. Kälte hatte in diesem Moment niemals existiert und obwohl Schwanensee noch nicht erfunden war, hatte sie das Gefühl, sie würde die vielen Pioretten gerade auf Spitze drehen ohne jegliche Angst, herunter zu fallen. Sie liebte den dunkelblonden Jungen im Schnee mehr als alles andere. Dabei wusste sie, dass Zeit jeder Liebe die größte Gefahr war.

Whitechapel, 1. Oktober 1888:

Der viktorianische Herbst war immer kälter, als der in ihrer Zeit, aber es war nicht die äußere Kälte, die Claire etwas ausmachte. Nein, mit der kam sie klar, obwohl ihr eleganter Mantel in Kombination mit dem aufwändig verzierten bordeauxroten Kleid, was sie darunter trug, nicht besonders wärmend war. Aber es war etwas anderes, was dafür sorgte, dass sie sich fühlte, als hätte sich ihr Magen in einen Eisblock verwandelt. Denn die Angst und die Ungewissheit waren kälter als der Oktoberwind.
Sie schlängelte sich durch eine schäbige kleine Gasse, ignorierte den betrunkenen alten Mann, der aus einer Kneipe taumelte und ihr irgendwas obszönes hinterherrief, und bog auf die enge Pflastersteinstraße ein, in der Jacks bescheidene Wohnung lag. Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen kurzen Blick auf das Bordell ein paar Häuser weiter.
Eine junge Frau, kaum älter als Claire selbst, lehnte sich gegen die Hauswand, ihr Gesicht in ihren Händen vergraben.
Claire überlegte, zu ihr hin zu gehen, zu fragen, was los war, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie es schon wusste. Letzte Nacht hatte er wieder zugeschlagen, gleich zweimal. Jack the Ripper. Niemand kannte seine Identität, und sie hoffte inständig, dass sie mit ihrer Vermutung falsch lag. Aber zuhause war Jack gestern Nacht nicht gewesen.

Sie atmete tief durch, bevor sie an die einfache Holztür klopfte, hinter welcher es hoch zu seiner Wohnung ging. Es war schon ironisch - vor mehr als einem Jahrzehnt hatte sie gedacht, sie könnte niemals gut genug für ihn sein, könnte niemals seinem Standard entsprechen, oder dem seiner Familie, und jetzt lebte er im ärmlichsten und gefährlichsten Stadtteil Londons, während sie sich mit ihrem chicen Kleid fehl am Platz vorkam.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er öffnete, und sie war sich auf einmal nicht mehr sicher, wo sie sich weniger wohl fühlte: auf der stinkenden, dreckigen Straße, oder ihm gegenüber in der Wohnung.
„Claire", sein Gesichtsausdruck war überrascht, als er die Tür öffnete, verzog sich aber dann zu einem charmanten Lächeln.
Jack, war immer noch so charmant.
Er konnte es unmöglich sein, der diese grausamen Morde beging.
„Was für eine angenehme Überraschung, dass du mich in meiner bescheidenen Hütte besuchen kommst! Kann ich dir etwas anbieten?" Der Geruch von Brandy stieg ihr in die Nase, und sie schüttelte den Kopf. Sie brauchte einen klaren Kopf, wenn sie das hier richtig machen wollte. Aber es gab keinen Weg drum herum.
Sie hätte ihm niemals so etwas zugetraut, egal, wie tief er in der Gesellschaft abgerutscht war, aber er log so oft darüber, wo er sich nachts herumtrieb, und sie konnte den Verdacht einfach nicht mehr abschütteln.
„Gestern Nacht ist es wieder passiert, hast du schon gehört?", sprach sie das Thema an.
Er ließ sich auf das dunkelgrüne Sofa neben dem Kamin fallen. „So bekommt also auch unser Whitechapel ein bisschen Aufmerksamkeit. Ja, ich habe davon gehört."
Einen Moment lang stand sie unnütz im Raum herum, unschlüssig, wo sie hingehen sollte, bis sie beschloss, auf dem Sessel ihm gegenüber Platz zu nehmen.
Wenn sie ihm ihren Verdacht gestehen würde, würde er ihr niemals verzeihen. Es würde alles, was noch von der Beziehung übrig war, die sie damals gehabt hatten endgültig begraben, wie bei einem alten Gebäude voller Risse und morscher Fußböden, das irgendwann gesprengt wurde. Aber im 19. Jahrhundert sprengte man noch keine Gebäude.
„Jack, wo warst du gestern Nacht?", die Worte hörten sich fremd in ihrem Mund an.
Er schwieg.

Kurzgeschichten 2019Where stories live. Discover now