Regentag

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Es war 9 Jahre her, seit sie das letzte mal zu mir Mama gesagt hatte. Die meisten wussten nicht, dass ich eine Tochter gehabt habe, dass ich jemals schwanger war und erst recht wusste keiner, von wem.

Das Wetter symbolisierte mir ein weiteres Mal, wie sehr dieses Land mich liebte.
Damals war ein sehr heißer Tag geswesen, aber mit ihrem Verschwinden war ein Gewitter aufgezogen.
Gummistiefel wären eine bessere Wahl gewesen, aber in der berühmtesten, ältesten und mächtigsten Königsfamilie der Welt ging es nicht um praktische Effizienz, sondern darum, zu zeigen, was Perfektion bedeutete. Der Regen fiel wie die Tränen des Volkes - so zumindest hätte die Queen es wahrscheinlich ausgedrückt, aber ich war nicht die Schwester meines ehemaligen besten Freundes, ich war nur das Stückchen Imperfektion, dass sie zur Beerdigung eingeladen hatten.

Sobald das Dach des Palasts mich vor den unnachgiebigen Regentropfen schützte, nahm ein Diener mir meinen Regenschirm ab.
„Stana Delaney", stellte ich mich vor, indem ich ihm meinen Pass unter die Nase hielt, bevor er fragen konnte, ob ich befugt war, die privaten Räume von Queen Amber zu betreten.
Er ließ mich passieren, da ich die ganzen Sicherheitschecks bereits hinter mir hatte, also stolzierte ich zielstrebig durch die mit allerlei sündhaft teuren Antiquitäten ausgestatteten Gänge.
Und dabei wusste ich noch nichtmal, ob sie wirklich hier sein würde.
Nein, ich wusste gar nichts von meiner Tochter. Was tat ich hier? Ich war in den kalten, eleganten Korridoren schon immer fehl am Platz gewesen, und dieses Gefühl war heute stärker denn je. Verdammt, was hatte ich mir gedacht? Edward und Cordelia waren tot, also gab es schon mehr als genug, was Sophie verarbeiten müsste. Da war das letzte was sie brauchen konnte ihre Mutter, die sie seit ihrem zweiten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte!

Und doch ging ich den Stimmen nach, die ich hinter einer der aufwändig verzierten weißen Holztüren hörte.
„Du musst dich umziehen, Darling, so kannst du nicht in die Öffentlichkeit gehen."
Ambers Stimme. Die Stimme der Frau, die fast meine Schwägerin geworden wäre, mit der ich mich nie verstanden hatte, und die an allem schuld war. Die Stimme der Königin.

Wenn ich durch diese Tür hindurch trat, würde ich die Schwelle meiner Vergangenheit übertreten und der Person gegenüber stehen, die ich so lange für tot oder nicht existierend erklärt hatte. Ich hatte Sophie schon in den Medien gesehen, wie konnte man das auch nicht, schließlich hatte sie am Tag des Geschehens mit gerade mal 11 Jahren einen Oscar gewonnen, als eine der jüngsten Personen aller Zeiten, aber das hier war anders.
Ich war anders. Normalerweise war Nervosität ein Gefühl, was nicht in mein Leben passte, doch der Gedanke, meiner Tochter nach so vielen Jahren wieder gegenüber zu treten....

„Wenn du dich nicht gleich umziehst, dann kannst du zugucken, wie dein dämliches Pferd zum Schlachter gebracht wird!"
Dieses Mal sprach nicht Amber, sondern Princess Annalia, die jüngere (und dabei doch schon lange nicht mehr junge) Schwester von Queen Amber und Edward. Sie war schon immer sehr überzeugend gewesen, also mit anderen Worten gut im Erpressen.
Ohne länger nachzudenken, öffnete ich die Tür, lehnte gegen den Türrahmen und überkreuzte meine Beine.
„Lasst sie doch wenigstens das tragen, was sie will, sie hat schon genug durchgemacht."

Sophie trug nicht mehr den Namen, den ich ihr damals nach ihrer Geburt gegeben hatte. Nun hieß sie Aurora, das Polarlicht, wozu brauchte man etwas schönes am Himmel, wenn sie auch die Weisheit sein könnte? Aber nein, sie war nun Aurora, die Prinzessin hinter den Dornenhecken, gefangen in einem ewigen Schlaf.
Meine kleine Tochter war alles andere als zwei Jahre alt.
Sie drehte sich um zu mir, und es fiel mir schwer, jegliche Aufregung aus meinen Gesicht fernzuhalten; mir die ganzen Emotionen, die mich überfluteten wie ein Tsunami, nicht anmerken zu lassen. Ihre Haare waren nicht feuerrot, wie ich sie in Erinnerung hatte, sie waren eher blondrötlich, erdbeerblond, wie man sagte. Eine komische Formulierung - das einzige, was ihre Haare mit Erdbeeren zu tun hatten, könnte die Sonne sein, die hinter einem Erdbeerfeld unterging.
Sophie wirkte nicht mehr, wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine junge Frau, obwohl sie nicht einmal 12 Jahre alt war, aber wenn man die Kindheit seiner eigenen Tochter verpasst hatte, waren 12 Jahre unglaublich alt.
Trotz ihrer blassen Haut, den verquollenen Augen, dem umgemachten Haar und dem alten Pullover von Edward und Cordelias abgetragenen DocMartens, welche Queen Amber und Annalia so verabscheuten, war sie für mich das schönste Mädchen der Welt.
Sie stand nur ein paar Meter weit weg. Nach all den Jahren, all der Entfernung, nur ein paar Meter.
Ich spürte Amber und Annalias schockierte Blicke auf mir, aber es war mir egal. Nur Sophie zählte. Sophie, meine Tochter.
Ich begann, zaghaft zu lächeln.
„Wer sind Sie?" Niemals hätte die Hoffnung gewagt, ihre Stimme wieder zu hören.

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Kurzgeschichten 2019Where stories live. Discover now