Kapitel 29 - Schneewittchen

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Linelle Mahner

Was kommt jetzt?, dachte ich, als sich der Herr auch Sekunden später nicht äußerte. Mit ähnlich fragender Miene schaute Frau Bließmann in Richtung des älteren Mannes einige Meter von sich entfernt. In seinem dunklen Anzug mit der schwarzen Krawatte wirkte er unheimlich geschäftig und ernst. Seine Haarpracht begrenzte sich auf einen grau melierten Kranz, der wohl erst kürzlich ordentlich zurecht geschnitten worden war. Sein markantes Gesicht konzentrierte sich auf das Geschehen im vorderen Teil des Raumes, während sich seine beinahe farblos scheinenden Augen regelrecht in Frau Bließmann bohrten.
,,Wissen Sie, Frau Bließmann...", setzte er an und trat ein paar langsame Schritte vor, wobei sich ein selbstgefälliges Grinsen auf seinem Mund bildete. Er spielte mit ihr.
Überheblicher Mistkerl.
Sein Verhalten erinnerte mich gefährlich stark an das meines Vaters, wenn er mir bewies, dass die Hölle sehr wohl existierte und der Teufel mehr als real war.
Er ließ sich Zeit, weiterzusprechen. Ganz offensichtlich, um zu provozieren. Das entging auch der mittlerweile in der Tat etwas unruhig wirkenden Frau Bließmann nicht. Nervös schob sie ihre Brille ein Stück nach oben und blinzelte ungewöhnlich häufig. So kannte ich sie gar nicht. Unsicher. Mitleidend suchte ich ihre Aufmerksamkeit, wollte ihr zeigen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen sollte. Doch leider reagierte sie nicht auf mich. Trotzdem schien sie einen ähnlichen Gedanken gefasst zu haben, denn auf einmal zog sie auffordernd ihre Augenbrauen zusammen und stützte täuschend gelassen die Arme in ihre Hüften. Von der einen auf die andere Sekunde war es da, ihr undurchschaubares Pokerface. Ihr Ausdruck verschloss sich, wurde kalt. Gefühllos. Als könnte ihr nun nichts und niemand mehr etwas anhaben. Als könnte sie jedes Hindernis überwältigen und jede Niederlage regungslos hinnehmen, die sich ihr in den Weg stellte. Aber auch die, wenn ihr Prüfer ihr vor einem versammelten Kurs mitteilte, dass sie ihr zweites Staatsexamen nicht bestanden hatte? Das wiederum bezweifelte ich. Allein die Vorstellung, wie sehr sie diese Nachricht enttäuschen würde, machte mich traurig. Das durfte einfach nicht passieren. Sie war eine der wenigen Lehrerkräfte, die ihre Arbeit spürbar gerne machten. Bei ihr hatte man nie das Gefühl, nur ein Teil ihres Jobs zu sein. Sie sah in jedem ihrer Gegenüber mehr, erkannte einen Menschen hinter einer zumeist unmotivierten, verschlossenen Fassade und interessierte sich merklich aufrichtig für einzelne Hintergründe, wenn man sie ließ. Eine solche Person nicht in den Dienst eintreten zu lassen, wäre für alle Schüler, die sie künftig im Unterricht erleben würden, eine Schande. Also bitte, lass es nicht das sein, was der Typ sagen will, bat ich gedanklich.
Kurz darauf ergriff ihr Prüfer endlich das Wort.
,,Ich habe genug gesehen. Kürzen Sie die Stunde.'', wies er sie kühl und emotionslos an, ohne ansatzweise eine Miene zu verziehen. Diese Tatsache ließ nicht nur Frau Bließmann nervös schlucken. Wenig verständnisvoll ging ein unbehagliches Raunen durch den Kurs. Niemand, mich eingeschlossen, konnte verstehen, was die Prüfer damit bezwecken wollten. Was wird das hier?
,,Ähm, ja, sollen wir dann -'', weiter kam sie nicht, weil ihr Prüfer sie unbeeindruckt unterbrach.
,,Sie sind der Lehrkörper. Verhalten Sie sich auch so!''
Damit setzte er sich, ohne sie weiter zu beachten, wieder auf seinen Platz in der Reihe, zu der auch Herr Walter gehörte. Angespannt schaute er zu Frau Bließmann und suchte ihren Blick. Diese hatte ihren Kopf allerdings dem Boden zugewandt und schien sich zwanghaft konzentrieren zu wollen. Oder versuchte sie sich zu beruhigen? Wenn, war es durchaus nachvollziehbar, denn es hätte mich doch ein wenig gewundert, wenn sie diese Ansage ihres Prüfers nicht gereizt hätte. Was denkt dieser Typ sich?! Er hatte ja keine Ahnung, was für eine tolle Lehrerin Frau Bließmann bereits war. Er hatte sie aus dem Konzept gebracht, deshalb wollte sie lediglich zur Sicherheit das weitere Vorgehen abfragen. Und er unterbrach sie, setzte sie auf unhöfliche Art und Weise unter Druck. Führte sie fast schon vor. Erstrecht jetzt sollte sie sich nicht von ihm einschüchtern lassen, musste ihm zeigen, wer die Hosen im Raum anhatte. Los, Sie schaffen das!, schickte ich gedanklich an Frau Bließmann.
Fast zur Bestätigung hob sie kurz darauf wieder ihren Kopf und atmete durch.
Obwohl sie wahrscheinlich ebenso wenig Ahnung hatte wie ich, warum ihre Prüfer sie erst unterbrachen und sie nun offensichtlich reizten, wollte sie sich keine Unsicherheit anmerken lassen. Nicht in dieser Situation. Für sie stand und fiel an diesem Tag ihre gesamte berufliche Zukunft. Offenbar machte sie ebendieser Gedanke an die Priorität des Moments mutig. Innerhalb weniger Sekunden veränderte sich ihre Haltung. Ebenso ihr Blick und ihre Ausstrahlung. So nahbar sie uns gegenüber im Unterricht durch ihre Offenheit auch gewirkt hatte, war sie klug genug gewesen, dennoch stets genügend Distanz zu wahren, um in einem Fall wie diesem immer noch ernsthaft die Karte der Autorität spielen zu können. Und das tat sie nun. Ihr war bewusst, dass sie jetzt keinen Zweifel an ihrem Auftreten zulassen konnte. Sie wollte und musste professionell erscheinen.
„Gut. Wie Sie wünschen.", antwortete sie trocken und bestimmt.
Hätte ich es nicht schon lange besser gewusst, hätte ich sie wahrscheinlich aufgrund der Aura, die sie dieser Zeit umgab, deutlich weniger sympathisch eingeschätzt, als sie eigentlich war. Tatsächlich wirkte sie autoritär, fast einschüchternd. Und von Kopf bis Fuß makellos. Ihre fast schwarzen, welligen Haare endeten exakt am Rand ihres Kiefers, um ihr Gesicht schmeichelnd zu umspielen und glänzten Ton in Ton mit ihrer markanten Brille, die wie immer ihre bernsteinfarben funkelnden Augen betonte. Sie ließ ihren Blick eindringlich und alldurchschauend wirken, sodass er den Eindruck erweckte, man könnte sich ihm keinesfalls entziehen. Entgegen dessen schimmerten ihre Wangen, ebenso wie ihre Lippen, leicht rötlich und machten es ihr trotz ihrer Mühe unmöglich, ihren inneren Aufruhr vollständig versteckt zu halten. Mein prüfender Blick glitt ein Stück an ihr herab, blieb jedoch sofort wieder an dem feinen, kaum sichtbaren Schweißfilm ihres Halses hängen, der sich vermutlich durch ihre Aufregung gebildet hatte und sich über ihr heute ausnahmsweise etwas offenherzigeres Dekolleté erstreckte. Wow. Wie gebannt starrte ich die Stelle an, bemüht kein Kopfkino herauszufordern, das in diesem Moment absolut unangemessen gewesen wäre. Es hätte mir unweigerlich gezeigt, auf welche Weise sie eventuell noch viel mehr auf Touren kommen konnte...
Oh, verdammt. Was denke ich hier bloß?!
Mich mental ermahnend scannte ich weiter ihre Optik. Sie sah heute wirklich überaus toll aus. Unter dem schwarzen Blazer, der nicht nur gut zu ihrer Hose passte, sondern auch wunderbar ihre ansehnliche, schlanke Figur betonte, trug sie eine aquamarinfarbene Bluse, die den perfekten Kontrast zu dem sonst sehr dunklen Outfit darstellte und darüber hinaus ihre helle, fast blasse Haut hervorhob. Ein wenig erinnerte mich dieser Look an Schneewittchen. In der Powerversion als erbarmungslose Business-Woman vielleicht. Ja, das kommt hin. Und nicht fiktiv, sondern ganz real. Schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut, weiß wie Schnee... Es war schon seit meiner Kindheit mein Lieblingsmärchen. Ich lächelte in mich hinein. Meine Disneyprinzessin.
Aber nur in meiner Fantasie, nicht in der Realität. In der Realität stand sie als meine Lehrerin nur ein paar Meter von mir entfernt und erwartete nach wie vor den Todesstoß ihrer Karriere, bevor diese überhaupt begonnen hatte.

Das Wunder ihrer AugenWhere stories live. Discover now