Kapitel 17 - Kalte Erschöpfung

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Jalia Bließmann

Zarte Sonnenstrahlen kitzelten mein noch schlafendes Gesicht und erhellten den Raum an diesem frühen Wintertag. Anscheinend hatte ich gestern Abend vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Auch vorhin, als ich Nala noch in der Dunkelheit in den Garten ließ, war es mir nicht aufgefallen. Da es aber zu dieser Jahreszeit ohnehin nicht vor acht hell wurde, manchmal auch gar nicht richtig, wachte ich dennoch erst gegen kurz vor neun auf und streckte mich ausgiebig.
Sonderlich lang war meine Nacht nicht gewesen, denn ich hatte noch bis in die frühen Morgenstunden mit Isabella, genannt Bella, telefoniert und meinen aufgrund dessen ausnahmsweise freien Abend genutzt. Eigentlich war ich keine Person, die viel trödelte, faulenzte oder Langeweile hatte. Ich wurde stets von meinem Drang nach Produktivität angetrieben und wollte Aufgaben immer möglichst schnell, effizient und gut erledigen. Dass ich meine Korrekturen wegen eines Anrufs vor mir herschob, passte also nicht ganz ins Bild. Die Ablenkung, die damit einher ging, kam mir allerdings ziemlich gelegen, weil mich ohnehin wieder einmal eine gewisse Schülerin in meiner Konzentration störte und meine Gedanken einnahm, sodass mir diese Alternative wenigstens vergleichsweise sinnvoll erschien. Zum Korrigieren wäre ich so oder so nicht gekommen. Linelle hatte mich in den letzten zwei Tagen wirklich ungewöhnlich stark beschäftigt. Nicht, dass sie als meine Schülerin vor Freitag nicht auch schon viel zu präsent gewesen wäre, nein, jetzt tauchte sie sogar beim Arbeiten vor meinem inneren Auge auf und kreuzte mein Denken bei nahezu allem, was ich tat. Hinzu kam, dass ich auch noch ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sie sehr wahrscheinlich verletzt und verunsichert hatte. Mein Pflichtbewusstsein drängte mich seitdem, diese Sache aus der Welt zu schaffen und mich zu erklären. Außerdem wollte meine übersteigerte Neugier nur zu gerne wissen, warum sie überhaupt so gravierend und aufgewühlt auf meine Aussagen reagiert hatte. Man konnte diesen Gesprächsverlauf zwischen uns ja wohl kaum als einen üblichen deklarieren. Noch ein Grund mehr, aus dem ich die Hintergründe ihres Verhaltens erfahren wollte.

„Nein, nein, nein, Jalia. Du willst das doch gar nicht wissen! Du hast kein Interesse an ihr!", stoppte ich selbst meine Gedanken und ermahnte mich zur Vernunft, während ich mir meine Haare aus dem Gesicht strich. Davon genervt, wie sehr mich eine Schülerin einnahm, drehte ich mich im Bett auf meine linke Seite.
Und überhaupt...
Was dachte ich mir eigentlich?
Dass Linelle früher oder später doch plötzlich einfach so mit mir reden würde, wenn ich mich bei ihr entschuldigte? Oder am besten nur schlicht abwartete? Dass sie darüber hinwegsehen würde, was ich ihr in gewisser Weise vorgeworfen hatte? Dass sie es sich anders überlegte und mich auf einmal doch bei sich haben wollte?
Pffft.
Sie hatte mir ganz klar gesagt, was sie wollte. Nämlich, dass ich mich von ihr fern hielt. Ihre letzten Worte an mich am Freitag hatte sie fast wie einen Befehl klingen lassen. Wie ich bereits in den vergangen Wochen gemerkt hatte, tat sie angestrengt dasselbe. Abgesehen von den unvermeidbaren Kunststunden und unserer kleinen Begegnung wegen ihres Sturzes, die drastisch aus dem Ruder gelaufen war.
Noch immer hätte ich mir im Nachhinein selbst dafür in den Hintern treten können, dass ich so abweisend auf ihren Dank reagiert hatte, nachdem ausgerechnet sie sich dazu überwunden hatte, einen entgegenkommenden Satz herauszubringen. Aber nach Wochen ihres distanzierten Verhaltens mir gegenüber wollte ich irgendwie, dass sie merkte, wie ich mich gefühlt hatte. Wie es war, wenn man eine freundliche, ehrliche Intention verfolgte, aus seiner Komfortzone trat, um einen Schritt auf eine fast unbekannte Person zu zugehen und dann auf eine konträre Reaktion derer traf, die man erwartete. Und das mehrmals und offenbar absichtlich. Was für Triggerpunkte ich damit bei ihr berührte, konnte ich ja nicht erahnen. Ich hatte ihr mehrmals einen Wink gegeben, von dem ich sicher war, dass sie ihn verstand, um ihr anzubieten, mit mir zu reden, aber wie erwartet wollte sie eben das nicht. Dementsprechend war das Resultat, dass sie mir aus dem Weg ging und mich weitestgehend ignorierte. Ich verstand sie dadurch noch weniger. Nicht gerade das, was ich beabsichtigt hatte. Ebensowenig wie sie zu verunsichern. Wie ich ihr das jetzt noch erklären sollte, wusste ich nicht. Unter diesen Umständen würde sie mir erstrecht konsequent ausweichen und eine Konfrontation mit dem Geschehenen vermeiden wollen.
Meine paradoxe, temperamentvolle, kluge, in sich gekehrte, hübsche Schülerin wollte mich jetzt erstrecht unbedingt auf Abstand wissen und kein Wort mehr mit mir reden, als nötig war. Dann muss ich sie eben irgendwie überzeugen, ohne dass sie es direkt merkt...
Abermals fiel mir auf, dass sie sich schon wieder in meine Gedanken geschlichen hatte und jederzeit mein Denken durchkreuzte. Es war wie verhext.
Obwohl es mich eindeutig nichts anging, interessierte mich, weshalb sie so verschlossen und distanziert durchs Leben ging. Warum sie so bemüht war, zu verstecken, was in ihr vorging. Sie verhielt sich ja nicht nur in meiner Gegenwart so zurückgezogen. Oberflächlich schien sie ein offener, fröhlicher Mensch zu sein, schaute man ihr aber einige Sekunden in die Augen und beobachtete ihre Reaktionen, sah man, wie es in ihr brodelte. Wie sie versuchte, zu verstecken, was sie dachte. Wie sie auf ihre Fassung und ihr Auftreten achtete.
Erneut rief ich mir ins Gedächtnis, wie jung sie sein musste und wie abgeklärt sie dennoch war. Sie schien nicht naiv und leichtsinnig in die Welt hinauszutreten, sondern achtsam und durchdacht, als rechne sie jederzeit mit den Tücken des Lebens, die es zweifellos bereithielt.
Meine Feststellungen führten nur zu noch mehr Fragen, auf die ich keine Antwort finden konnte. Je mehr ich darüber grübelte, desto mehr interessierte mich, was dahinter steckte. Kein Mensch war grundlos so vorsichtig und eindimensional. Sie wirkte fast wie ihre Tuschzeichnung, die sie in Kunst anfertigte. Als gäbe es bloß schwarz und weiß in ihrem Leben. Als wäre sie der Schatten ihrer selbst. Ein warmer Hauch in mitten eines kalten Sturms. Sie wechselte in Sekundenschnelle von warm zu kalt und ich wusste nie, wie lange ihre Wärme präsent war, bevor die Kälte wieder Einzug nahm. Sie warf Fragen in mir auf, die sie wahrscheinlich nie beantworten würde und weckte Wünsche, die sich nicht erfüllen würden und die ich eigentlich nie entwickeln durfte.
Wie zum Beispiel, sie erneut zu berühren. Diesen hübschen Menschen.
Moment, was?
Jalia, bist du vollkommen irre?!
Eindeutig, antwortete ich mir im Geiste selbst. Woher kam das denn auf einmal?
Es war ja nur ein Gedanke...Ein wirklich verlockender Gedanke...
Schon wieder dachte ich daran, wie nah sie im Treppenhaus bei mir stand, wie ihre ozeanblauen Augen mir entgegen strahlten und mir ganz andere Emotionen zeigten, als Linelle wenig später verbal formulierte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, war verwirrt von ihrem Handeln, ihren Aussagen und ihren körperlichen Reaktionen, die mir in meiner Anwesenheit immer wieder auffielen. Alles, was sie tat und sagte, war widersprüchlich und passte nicht zu dem, was ich in ihren Augen sah.
Als sich neulich unsere Blicke vor dem Kunstraum trafen, schaute sie mir so verträumt, so gedankenversunken entgegen, dass ich ihr in Kombination mit allen anderen Eindrücken, die ich von ihr hatte, nicht abnahm, dass sie mich wirklich von sich wissen wollte. Oder interpretiere ich das ganz falsch?
Wie ich es auch drehte und wendete, mit jedem unserer Aufeinandertreffen begriff ich weniger, was in dieser rätselhaften jungen Frau vorgehen musste.

Das Wunder ihrer AugenWhere stories live. Discover now