Kapitel 2 - Bunte Motivation

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Linelle Mahner

Die Woche über wurde die Organisation des Halbjahres thematisiert und die Lehrer erläuterten den Oberstufenplan ihres Faches - in jeder ersten Stunde wieder.
Genervt von den ständigen Wiederholungen hörte ich meinem Geschichtslehrer am Freitagmittag kaum noch zu. Nach dem elften Mal hat es ja wohl auch der letzte Horst verstanden.
Ihm war bewusst, dass wir seinen Vortrag in ähnlicher Form bereits im Laufe der Woche etliche Male gehört hatten, doch enthusiastisch wie er nunmal war, klärte er uns erneut über die Rahmenbedingungen im Aufgabenfeld der Geistes- und Kulturwissenschaften auf und ging jeden einzelnen Punkt im Lehrplan seelenruhig durch.
Nationalsozialismus und Erinnerungskultur. Wichtige, interessante Themen, keine Frage.
Nur nicht an einem Freitagmittag, innerhalb von 45 Minuten.
Soll das nicht ein Schuljahr füllen, nicht nur eine Schulstunde?
Hört ihm überhaupt irgendjemand zu? - Wahrscheinlich nicht.
Ich sah mich im Raum um: Einige hatten inzwischen den Kampf gegen die Müdigkeit, die die Woche hinterlassen hatte, aufgegeben und hatten ihren Kopf auf ihre Hände gestützt. So auch ich. Jedoch nicht aufgrund von Müdigkeit, sondern weil dieses Gerede schlichtweg unfassbar langatmig war und mir inzwischen mehr als unnötig erschien. Genervt wandte ich meinen Blick zum Fenster. Einzelne Schüler aus verschiedenen Jahrgangsstufen hielten sich auf dem Hof auf und freuten sich am guten Spätsommerwetter. Die Sonne schien warm und sanft, der märchenhaft blaue Himmel war nur von einigen Wolkenfetzen durchkreuzt. Säße man nicht im Unterricht, wäre das ein wirklich toller Tag. Den Blick weiter schweifen lassend sah ich zwei Fünfklässler mit einem Eis in der Hand auf dem angrenzenden Mini-Spielplatz schaukeln und eine Mädchengruppe der Jahrgangsstufe acht, die quer über den Platz stolzierte, um auch bloß bei ihrem Catwalk gesehen zu werden. Über diesen Anblick musste ich leicht schmunzeln.

„Gut, dann wär's das für heute. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende! Das Wetter soll ja noch einmal richtig toll werden.", hörte ich meinen Geschichtslehrer endlich die rettenden Schlussworte sagen. Freiheit. Zumindest für zwei Tage. Die Zeit vor den Klausurenphasen sollte man wirklich nutzen. Fing der Lernstress erstmal an, hatte man wochenlang quasi kein Privatleben mehr.

„Sag mal, wollen wir morgen Eis essen gehen? Nochmal einen Restsommertag genießen?", fragte ich Marina, die bis auf ein paar Ausnahmen ebenfalls in jedem meiner Kurse saß.
„Gerne, das machen wir. Wir müssen eh noch ein bisschen lästern. Kurse, Lehrer, du weißt Bescheid.", sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Andere Mädchen hätten vermutlich noch „Jungs" auf die Liste gesetzt, aber weder Marina, noch ich verspürten einen sonderlichen Drang, dem anderen Geschlecht viel Aufmerksamkeit zu schenken. Zwar hatten wir andere Motive, doch konnten wir durch diese Gemeinsamkeit, woher sie auch rührte, zumindest recht gut miteinander reden.

„Bin wieder da!", rief ich meinen Eltern zu, als ich Samstagabend zurück nachhause kam, und ging geradewegs in mein Zimmer. Die zwei Stunden mit Marina in der Eisdiele unseres Dorfes waren schnell vergangen und brachten einige neue Erkenntnisse. Ich erfuhr, wer seit Neustem mit wem ausging oder welcher Lehrer skandalöser Weise auf einer Party von irgendeiner Cousine beim Rauchen gesehen wurde. Allerhand Informationen, die meinen Tratsch-Haushalt wieder auf Vordermann brachten. Doch eine davon interessierte mich ganz besonders und geisterte immer wieder in meinem Kopf umher.

60 Minuten zuvor

„Ach, was mir noch einfällt: Hast du schon gehört, Herr Walter bringt Dienstag anscheinend irgendjemanden mit in den Unterricht. Maria hat erzählt, wir hätten eine neue Referendarin, die unbedingt in der Q1 unterrichten wolle, nicht nur in der E-Phase. Scheint ein bisschen übermotiviert, die Gute.", Marina grinste belustigt.
„Ohhh neee, ich fand Referendare schon immer so mega nervig. Warum haben wir denn nichtmal jetzt beim Abi Ruhe?", erwiderte ich wenig begeistert.
Kunst war mit Deutsch mein Lieblingsfach, trotz des etwas nervigen Herrn Walter und ich wollte nicht, dass irgendsoeine besserwisserische, euphorische Referendarin die für mich nahezu besten Stunden in der Woche vermieste. Doch offenbar sollte die, von der Marina hier sprach, ein ganz besonders ausgeprägtes Exemplar in diese Richtung sein. Fantastisch.

Das Wunder ihrer AugenWhere stories live. Discover now