Kapitel 27 - Zwischen Moral und Anziehung

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Jalia Bließmann

Verdammt. Diesmal hatte Linelle mich wirklich eiskalt erwischt. Wie sie aussah, wie sie sich bewegte, wie sie mich anschaute - alles an ihr brachte mich aus dem Konzept. Mein Plan, sie mit Ignoranz endlich von mir fernzuhalten, war nicht ansatzweise aufgegangen, sondern hatte lediglich ihre mutige Seite herausgefordert. Bravo, ganz toll, Jalia! Wie so oft hatten mich ihre himmelblauen Augen angestrahlt und mühelos in ihren Bann gezogen. Ich konnte sie zehnmal, fünfzigmal, hundertmal ansehen, ich würde mich immer wieder in ihnen verlieren. Sie waren so schön. Genau wie sie selbst, dachte ich. Auf der Stelle hätte ich mich jedoch ohrfeigen können. Was denkst du nur wieder für einen Blödsinn?!
Natürlich war meine nach wie vor unangemessene Bewunderung alles andere als förderlich für mein Vorhaben, sie endlich aus meinen Gedanken zu verbannen. Auch wenn bisher wohl niemand, einschließlich mir selbst, einschätzen konnte, wie weit diese Bewunderung ging, hatte sie mich bereits so manches Mal in brenzliche und unangenehme Situationen gebracht. Wenn jemand von ihnen erfahren würde, zum Beispiel von dem nicht unerheblichen Vorfall, dass wir uns in einem schwachen Moment beinahe geküsst hätten, konnte ich ziemlich sicher sein, jegliches Ansehen, das ich mir über das vergangene halbe Jahr aufgebaut hatte, zu verlieren. Scheiße.
Einmal mehr wurde mir bewusst, wie leichtsinnig mein Handeln an diesem Tag gewesen war. Es konnte meine Karriere zerstören, bevor sie überhaupt wirklich angefangen hatte. Und das nur wegen irgendeiner Schülerin. Pffft. Wenn ich mir die Fakten so durch den Kopf gehen ließ, wirkte es noch viel verrückter, dass ich mich fast darauf eingelassen hätte. Unglaublich, wie dumm man sein kann, ich war erschrocken über mich selbst. Ich hatte lange mit mir gehadert, ob ich den Lehrberuf tatsächlich ergreifen sollte, ob er das Richtige für mich war, aber nach dem, was vor Jahren passiert war, erschien er mir wie der nächste Schritt meines Schicksals.

Zügig eilte ich in Richtung der Unterstufenräume. Ich wollte hier weg. Weg von der Treppe, weg von ihr. Es war naheliegend, dass Linelle sich die Steilvorlage, die sich ihr bot, wenn ich schon gegen sie lief, nicht entgehen ließ, aber dass sie mich daraufhin derart offensichtlich provozierte, hatte ich ihr eigentlich nicht zugetraut. Oder war ich bloß zu empfindlich und das hatte sie gar nicht beabsichtigt? Gewöhnlich war sie in meiner Gegenwart dennoch deutlich schüchterner. Doch nicht eben. Ihre herausfordernde Stimme, ihre klaren Augen und ihre bemerkenswerte Schönheit weckten Gedanken in mir, die ich als ihre Lehrerin niemals hätte haben sollen, vor allem nicht vermehrt. Von jetzt auf gleich. Einfach so. Mit ihrer Andeutung merkte sie eigentlich bloß an, dass mir hätte klar sein müssen, wie tückisch Treppen sein konnten, weil sie ja vor Monaten in meiner Gegenwart auf einer gestürzt war, aber mir kam stattdessen in den Sinn, dass wir uns gewissermaßen dort zum ersten Mal berührt hatten. Natürlich war dieser Moment keineswegs absichtlich auf Annäherung hinausgelaufen, sondern diente lediglich dazu, ihr wieder auf die Beine zu helfen, nur konnte ich auch jetzt im Nachhinein nicht leugnen, dass ich diesen Augenblick wahrscheinlich mehr genossen hatte, als ich gesollt hätte. Wie im Zeitraffer spielte sich die Szene nun vor meinem inneren Auge ab und erinnerte mich daran, wie sich ihr Körper an meinem angefühlt hatte. So weich, so zerbrechlich, so schön... Sie zog mich an und schien damit zu spielen - ob gewollt oder nicht. Ihre Worte hatte sie mit Bedacht gewählt und auch ihre Körpersprache versteckte nicht, dass sie ihre Wirkung auf mich durchaus wahrnahm. Auch wenn sie nicht einordnen konnte, wie echt meine Reaktionen auf sie waren, fühlte ich mich furchtbar, weil ich wusste, dass sie es waren. Und das durften sie nicht. Das muss aufhören, Jalia, ermahnte mich meine innere Stimme. Ich weiß. Ich weiß doch...
Egal, wie sehr Linelle mich eben und vielleicht auch in Zukunft herausfordern würde, ich musste ihre Anziehung unbedingt ignorieren. Glücklicherweise musste ich nur noch vier Stunden mit ihr überstehen, bevor sich unsere Wege wieder trennten. Blöd nur, dass in einer dieser Stunden mein Examen anstand. Wie ich das professionell meistern sollte, war mir im Moment noch ein Rätsel, aber in den drei Wochen Ferien, die nun vor mir lagen, würde mir sicherlich etwas einfallen. Hoffentlich.
Allein wie ich gerade auf ihre kleine Anspielung reagiert hatte, wirkte mein überstürzter Abgang vermutlich wie eine Art Flucht auf sie. Womöglich war er das sogar gewesen, aber in erster Linie war er meine Möglichkeit, ihrem provokanten Blick auszuweichen. Er fühlte sich an, als konnte sie mir ansehen, was ich dachte. Als würde sie mich durchschauen. Und das war ebenfalls etwas, das sie nicht durfte. Etwas, das ich nicht zulassen konnte.

Das Wunder ihrer AugenWhere stories live. Discover now