Kapitel 4 - Verborgene Schönheit

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Linelle Mahner

Als Frau Bließmann den Titel des Films nannte, konnte ich förmlich spüren, wie mir die Kinnlade runterklappte.
Wir schauen diesen Film?
Ich schien nicht die einzige überraschte Person im Raum zu sein, denn mittlerweile war allgemeines Getuschel ausgebrochen. Es wurde darüber diskutiert, ob sie wirklich diesen Film meinen konnte oder ob es noch einen mit ähnlichem Titel gab.
„Wie ich sehe, kennen ihn wohl einige von euch bereits. Das freut mich. Ich war schon gespannt auf eure Reaktion. Lasst euch bitte drauf ein und seht es als Inspiration. Lasst es zu, zu fühlen.", damit lächelte Frau Bließmann noch einmal in die Runde, bevor sie sich den Stuhl vom Lehrerpult nahm und sich an die Raumseite zu Herrn Walter setzte. Er hatte in der Zwischenzeit einen Beamer aufgebaut und startete nun den Film.
Und tatsächlich, ich erkannte das Titelbild; Adelé und Emma, ihre Köpfe nur wenige Zentimeter getrennt, die sich beinahe küssten.
Aus irgendeinem Grund war ich völlig von der Rolle. Nicht wegen der Sache an sich, sondern weil es absolut untypisch für meine Schule war, einen solchen Film zu zeigen. Sie war schon recht alt und tendierte ins Konservative. Natürlich gab es dennoch Lehrer, und vor allem Schüler, die den Weg ins 21. Jahrhundert zeigten, aber trotz dessen war es hier manchmal nicht ganz einfach, wenn man nicht auffallen wollte. Meine Schule war bekannt, hatte sich einen Namen gemacht, den man nicht verlieren wollte. Schön und gut. Wie das jedoch mit Weltoffenheit in Konflikt stehen sollte, war mir nicht begreiflich. Überhaupt war mir das alles zu blöd und zu viel, weshalb ich es zwar von mir persönlich fern halten wollte, es mich aber allgemein störte. Ich selbst wollte mich nie wirklich damit auseinandersetzen, weil ich es strikt vermied, in der Schule über Gefühle nachzudenken, geschweige denn zu reden. Man musste ja nicht so eine große Sache daraus machen. Ich verstand Menschen, die der schulischen Klatsch - und Tratschpresse freiwillig Details ihres Privatlebens lieferten, noch nie. Mit meiner eher verschwiegenen Art war ich bisher immer ganz gut gefahren, denn die Menschen in meinem Umfeld hatten mich seit Jahren nicht auf Beziehungen oder ähnliches angesprochen. Ich wollte mit niemandem reden, der mich ohnehin nicht verstand, ernst nahm oder sich aufrichtig interessierte. Genau deshalb machte ich auch dieses Thema, wie so viele andere, ganz mit mir selbst aus und eigentlich hatte ich nicht vor, das demnächst zu ändern.
Doch da hatte ich die Rechnung ganz offensichtlich ohne eine gewisse Frau Bließmann gemacht. Das hier war gewissermaßen ihre erste Unterrichtsstunde bei uns und schon brachte sie alles durcheinander. Das Halbjahr hatte nicht mal wirklich angefangen, da zwang sie mich schon aus meiner Komfortzone. Irgendwie fühlte ich mich unter Druck gesetzt. Mein Glück war jedoch, dass ich den Film bereits kannte.
Die erste Szene erschien und ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Wie um alles in der Welt soll ich mir diesen Film ansehen, während sie im Raum ist und mit schaut?
Immer wieder blickte ich in den folgenden 70 Minuten zu den Lehrern, vor allem natürlich zu Frau Bließmann. Ich wollte unbedingt ihre Reaktion sehen. Bedeutete der Film ihr etwas? Was war ihre Geschichte?
Es schien, als könnte Frau Bließmann meinen Blick auf sich spüren, denn auf einmal drehte sie ihren Kopf Richtung Klasse und beobachtete einige Schüler. Manche von ihnen hatte ich gar nicht so eingeschätzt, dass sie dieses Themenfeld überhaupt interessierte, aber ein Großteil des Kurses hatte seinen Blick tatsächlich recht konzentriert auf die flackernde Beamerprojektion an der vorderen Wand des Raumes geheftet.
Langsam entspannte ich mich wieder. Niemand achtet auf dich. Alles ist gut.
Als ich meine Konzentration nun ebenfalls wieder nach vorne richten wollte, bemerkte ich Frau Bließmanns Blick. Unsere Augen trafen sich und auf einmal fühlte ich mich ertappt. Dabei hatte sie doch mich angesehen. Trotz meiner Verunsicherung schaute ich nicht weg und glaubte, ein Lächeln in ihren Augen zu erkennen. Sie wirkten mild, freundlich und auf eine gewisse Weise beruhigend. Nach sicherlich sechs, sieben Sekunden wandte sie sich wieder nach vorn. Ich tat es ihr gleich.
Sie hat weggeguckt. Ich bin ihr nicht ausgewichen. Was genau mich daran freute, verstand ich selbst nicht, aber mich durchströmte plötzlich ein wohliges Gefühl, das ich einfach so hinnahm.

Das Wunder ihrer AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt